Die Diskrepanz zwischen aktuellen und zukünftigen Mietpreisen in älteren, ehemals erschwinglichen Wohnbeständen in Schweizer Städten veranlasst sowohl institutionelle Investoren als auch private Vermieter, diese Bestände zu renovieren oder abzureißen (Sager et al., 2018). Diese Aufwertung ist verbreitet und führt zu Kündigungen bestehender Mietverhältnisse und zur Verdrängung der bisherigen Mieterschaft (Meuth und Reutlinger, 2023). Obwohl auch private Vermieter Mietkündigungen aussprechen, spielen bei Leerkündigungen institutionelle Akteure wie Banken, Versicherungen und Pensionskassen eine bedeutende Rolle. Der steigende Marktanteil dieser spekulativer Akteure hat zu höheren Immobilienwerten und Mietpreisen beigetragen, was den finanziellen Druck auf Mieter:innen in städtischen Gebieten erhöht (Schärer et al., 2022). Die Modernisierung des bestehenden Wohnungsbestands ist zudem entscheidend für den Rückgang erschwinglicher Mietpreise (Althaus et al., 2016; BWO, 2016) und verdrängt überproportional viele wirtschaftlich weniger wohlhabende Haushalte zugunsten einkommensstärkerer (siehe für Zürich, Kaufmann et al., 2023).
Verdrängung durch Kündigungen von Mietverhältnissen lösen häufig tiefgreifende Gefühle von Hilflosigkeit und Unsicherheit aus, da Mieter:innen ihr vertrautes Umfeld verlieren (Reutlinger, 2019). Kapitalakkumulation basiert hier auf dem existentiellen Bedürfnis einer Stadtbevölkerung nach Wohnraum und danach, sich innerhalb eines städtischen Raumes zu erholen, zu bilden oder zu arbeiten (Berry, 2023). Der Mehrwert, der durch diese Bedürfnissen und öffentlichen Investitionen entsteht, wird allerdings in ortsspezifischen Formen von jenen ‘absorbiert’, die Eigentumstitel halten (Harvey, 1976: 225). Deshalb stellt diese Arbeit den Begriff der Wohnungsenteignung in den Mittelpunkt. Kündigungen werden hier als ein Teil eines Prozesses verstanden, welche die Akkumulation von Kapital und Wohnbeständen in den Händen finanzstarker Akteure vorantreibt (Holm, 2022), sowie die Prekarisierung der Mieter:innen aufgrund steigender Mieten vertieft (Vontobel, 2024). Zudem ermöglicht die Konzentration von Immobilienbesitz es institutionellen Akteuren nicht nur ökonomische, sondern auch politische Macht zu akkumulieren (Madden und Marcuse, 2016).
Dennoch werden institutionelle Investoren oft nicht als politische Akteure wahrgenommen und verdrängte Mieter:innen werden selten in hinreichendem Maße als materiell und politisch enteignet anerkannt. Deshalb untersucht diese Arbeit Verdrängungsprozesse als umfassendes politisches Problem: Wohnungsenteignung intensiviert Machtasymmetrien innerhalb ökonomischer, politischer oder rechtlicher Strukturen und beeinflusst die alltäglichen Praktiken und politischen Subjektivierungsprozesse von Mieter:innen. Gleichzeitig reproduzieren und hinterfragen die Handlungen und Interpretationen von Mieter:innen dominante ökonomische, politische oder rechtliche Strukturen und Ideologien.
Diese Arbeit fokussiert zwei Debatten innerhalb der Wohnforschung: Der Schwerpunkt auf die Reproduktion von Machtasymmetrien führt in der Wohnforschung zeitweilen dazu, die Funktionsweise von Macht auf der subjektiven Ebene zu vernachlässigen (Azevedo et al., 2024). Wenn es um das Verständnis von Reaktionen von Mieter:innen geht, führt umgekehrt der Fokus auf die räumlichen, ökonomischen oder sozialen Auswirkungen von Verdrängung dazu, dass Governance-Praktiken von Vermieter:innen (Polanska und Richard, 2021) und umfassende Macht- oder Klassenverhältnisse unterberücksichtigt bleiben (Rekhviashvili, 2023: 258). Die Dichotomie zwischen institutionellen Machtstrukturen und ihrer Auswirkungen als gelebte Erfahrungen korrespondiert dabei mit Diskussionen rund um das Konzept der Entfremdung.
Die Kluft zwischen institutionellen und erfahrungsbezogenen Perspektiven decken sich mit einer zweiten zentralen Motivation dieser Arbeit: Den Bedingungen nachzugehen, unter denen kollektiver Widerstand gegen Verdrängung möglich wird, sowie die strukturellen Hindernisse hervorzuheben, die den Widerstand erschweren. Sie adressiert auch praktische Herausforderungen, denen die Autorin als Teil der Mietbewegungen in Basel und Zürich begegnet ist. Durch die Perspektive aus Aktivismus und Wissenschaft trägt diese Dissertation zu politischen und akademischen Debatten über Verdrängung bei und hebt die dynamische Wechselbeziehung zwischen ökonomischer Enteignung, institutioneller politischer Macht, den Reaktionen der Mieter:innen und deren Interpretationen von Verdrängung hervor.
Die empirische Grundlage der Untersuchung von Verdrängungsprozessen bilden zwei Fallstudien: Einerseits Kündigungen in Basel und andererseits steigende Mieten in Kypseli, Athen. Der Fall Basel steht im Zentrum der Analyse und ermöglicht eine detaillierte Untersuchung der Mikrodynamiken, wie Mieter:innen die Verdrängung durch Kündigungen erleben und darauf reagieren. Um das Verständnis für Wohnungsenteignung als politisches Problem im europäischen Kontext zu vertiefen, werden die Erkenntnisse aus Basel mit Einsichten aus der Fallstudie in Athen ergänzt und in Dialog gebracht. Mit dem Ansatz der institutionellen Ethnografie werden Wechselwirkung zwischen mächtigen institutionellen Strukturen und alltäglichen Erfahrungen untersucht (Smith, 2006; Herbert, 2000). Für beide Fälle wurde ein qualitativer Multi-Methoden-Ansatz verwendet, der Medien- und Dokumentenanalysen, Interviews mit Expert:innen und verdrängten Mieter:innen, sowie teilnehmende Beobachtungen umfasst.
Diese Dissertation erweitert mit sieben Beiträge unser Wissen zur Wechselbeziehung der Macht von Institutionen und Politik und alltäglichen Praktiken und Subjektivierungsprozessen von Mieter:innen:
und verdeutlicht die Beeinflussung der ökonomischen, politischen und sozialen Möglichkeiten der Mieter:innen sich gegen Verdrängung zu wehren durch miteinander verflochtene Arbeits-, Grenz- und Eigentumsregime.
Keywords: Wohnungsenteignung, politische Entfremdung, Verdrängung, Mieter:innen.