Suddeutsche Zeitung 13. Juli 2023
Es ist buchstäblich ein schwerwiegendes Thema. Die Frage nach dem optimalen Gewicht treibt nicht nur figurfixierte Jugendliche und junge Erwachsene um, die ausgemergelten Influencerinnen nacheifern, sondern auch viele gesundheitsbesorgte Menschen anderer Altersklassen. Schlank und rank entspricht dem gängigen Schönheitsideal und gilt zudem als Zeichen für Gesundheit und Fitness. Dabei ist diese Kombination längst nicht immer zutreffend. Eine umfangreiche Untersuchung aus den USA zeigt jetzt sogar, dass jene Menschen die robusteste Gesundheit haben, die – zumindest der Definition nach – leichtes bis mittleres Übergewicht auf die Waage bringen.
Ärzte und Forscher der Rutgers University belegen im Wissenschaftsmagazin Plos One, dass Erwachsene mit einem Body Mass Index (BMI) zwischen 25 und 27,4 – das entspricht leichtem Übergewicht – ein um fünf Prozent geringeres Sterblichkeitsrisiko als Menschen mit dem als Normaloder sogar Idealgewicht bezeichneten BMI zwischen 22,5 und 24,9 haben. Wer einen BMI zwischen 27,5 und 29,9 und damit mittleres Übergewicht zu bieten hat, kann sogar mit einem um sieben Prozent geringeren Sterblichkeitsrisiko rechnen. Erst ab einem BMI von 30, der Grenze zur Adipositas, Fettleibigkeit, steigt demnach das Sterblichkeitsrisiko wieder und erhöht sich mit zunehmendem BMI immer deutlicher um 20 bis 108 Prozent.
Der BMI errechnet sich aus dem Körpergewicht, das durch die ins Quadrat genommene Größe in Metern geteilt wird. In der aktuellen Studie mit mehr als 500 000 Teilnehmern aus den USA, die im Durchschnitt 46 Jahre alt waren, zeigte sich ein Zusammenhang zwischen Alter, Gewicht und Gesundheitsgefahr erst mit stark erhöhten BMI-Werten: Bei älteren Erwachsenen war das Sterblichkeitsrisiko zwischen BMI 22,5 und 34,9 nahezu gleichbleibend gering und stieg erst bei einer Adipositas zweiten Grades (BMI größer als 35) deutlich an.
Bei jüngeren Erwachsenen lag der gesundheitlich optimale BMI-Bereich zwischen 22,5 und 27,4 – die Krankheitsrisiken nahmen bei mittlerem Übergewicht zu. „Mit einem BMI im Übergewichtsbereich steigt nicht zwangsläufig die Sterblichkeit“, so die Schlussfolgerung der Autoren. „Das gilt besonders für Erwachsene im mittleren oder höheren Alter.“
Die Frage, ob ein paar zusätzliche Pfunde die Gesundheit belasten oder sogar gesund sind und ab welchen Ausschlägen auf der Waage es gefährlich wird, führt auch unter Wissenschaftlern zu kontroversen Debatten. Die aktuelle Studie ist nicht die erste, die zeigt, wie nützlich ein paar Polster mehr sind, allerdings sind die größten bisherigen Untersuchungen zum Thema bereits zehn bis 15 Jahre alt. Sie lassen sich mit „ein bisschen rund ist gesund“zusammenfassen, beruhen aber größtenteils auf Datensätzen aus dem 20. Jahrhundert.
In der neuen Studie wurde auch analysiert, wie sich das Risiko entwickelt, wenn jene Teilnehmer herausgerechnet wurden, die in den ersten beiden Jahren starben – und zwar womöglich an Krankheiten wie Infarkt, Schlaganfall oder Diabetes, die mit zunehmendem Übergewicht wahrscheinlicher werden. Doch auch nach dieser statistischen Adjustierung lag das Risiko im BMI-Bereich zwischen 25 und 29,9 noch niedriger oder genauso hoch wie in der BMI-Spanne zwischen 22,5 und 24,9 und stieg erst jenseits von 30 an.
„Die aktuellen Ergebnisse zeigen in der Beziehung zwischen Sterblichkeitsrisiko und Gewicht eine typische U-Kurve – die Extreme mit sehr hohem und sehr niedrigem BMI gehen mit den größten Risiken einher“, sagt der britische Statistiker George Savva. „Allerdings darf man beim flüchtigen Lesen nicht den Eindruck bekommen, dass sich ein Gewichtszuwachs überhaupt nicht negativ auf die Gesundheit auswirkt.“Viele Laien könnten nicht zwischen Übergewicht und Fettleibigkeit unterscheiden, so Savva, und würden womöglich jede Gewichtszunahme für harmlos halten, obwohl ab einem 30er BMI die Gefahren eindeutig steigen – und dies auf zig Millionen Menschen zutrifft. Der Anteil der Menschen mit einem BMI jenseits von 30 liegt in Deutschland bei 24 Prozent der Erwachsenen, in den USA sind es sogar fast 30 Prozent.
Wenn sich in einigen Studien und Analysen von Untergruppen aber zeigt, dass die Risiken für Krankheiten wie Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall, Fettleber und Arthrose schon bei mittlerem Übergewicht und einem BMI von 27 oder 28 leicht ansteigen, dann liegt das daran, dass dick nicht gleich dick ist. Unter den stattlichen Menschen gibt es viele, die stoffwechselgesund und zudem körperlich aktiv sind. Zwischen 40 und 50 Prozent der übergewichtigen Frauen und 30 bis 40 Prozent der übergewichtigen Männer gehören zu dieser Gruppe. Selbst unter den Adipösen machen sie 15 bis 30 Prozent aus. Diese fitten Dicken sind gesünder als viele schlappe Schlanke.
Der andere Teil der Dicken gehört hingegen zu den metabolisch Ungesunden, die zwar bisher nur einen leicht erhöhten BMI aufweisen, deren Blutzucker, Blutfette und Blutdruck jedoch bereits in bedenkliche Höhen geklettert sind. Ihnen droht ein metabolisches Syndrom, wenn sie weiter zunehmen und inaktiv bleiben – inklusive erhöhter Risiken für die damit verbundenen Folgekrankheiten.
Die einfache Zweiteilung in dick und ungesund versus schlank und gesund wäre demnach irreführend. Viele leicht oder mittelgradig Übergewichtige müssten sich aus medizinischer Sicht keine Sorgen machen.
Vielleicht hilft diese Entwarnung, sich darüber klar zu werden, ob mit der nächsten Diät einem Schönheitsideal nachgeeifert wird oder andere Motive dahinterstecken, schließlich ist der gesundheitliche Nutzen für viele Menschen eher klein.
Aus diesem Grund wird die starre BMIEinteilung auch von Fachleuten immer wieder kritisiert. Rechenhilfen zur BMI-Bestimmung sind immerhin zumeist an das Alter angepasst, doch auch sie berücksichtigen weder Körperbau noch Fitnesszustand oder die Stoffwechsellage, sondern geben nur grobe Orientierung. Zumindest der Begriff Idealgewicht sollte nur unter Vorbehalt verwendet werden. Aus medizinischer Sicht umfasst er schließlich eine erhebliche Spanne, die von BMI 19 bis BMI 30 – und in vielen Fällen sogar darüber – reichen kann.