Verroht die Gesellschaft?

Psychologe Van Quaquebeke: Verroht die Gesellschaft?

Interview von Anna Fischhaber

Im Straßenverkehr herrscht Kleinkrieg, Politikerinnen werden bedroht und Andersdenkende beschimpft: Geht uns der Respekt verloren? Nein, sagt der Psychologe Niels Van Quaquebeke, es geht um etwas ganz anderes.

Ob es um Gewalt gegen Polizisten geht, um schlecht erzogene Schüler oder egoistische Verkehrsteilnehmer, immer wieder hört man: die Gesellschaft sei respektloser, roher, egoistischer geworden. Aber ist das wirklich so? Niels Van Quaquebeke ist Professor für Organisationspsychologie und setzt sich schon seit vielen Jahren mit dem Begriff Respekt und den praktischen Ableitungen für das tägliche Handeln auseinander.

SZ: Herr Van Quaquebeke, wann wurden Sie das letzte Mal respektlos behandelt?

Niels Van Quaquebeke: Mein Leben läuft sehr respektvoll ab. Ich bin oft überrascht, wie respektvoll. Im Bus sehe ich, dass junge Leute für ältere aufstehen. In meinem Viertel, in Hamburg-Altona, sind die Straßen wahnsinnig eng. Aber hier wird nicht gehupt, nicht geschrien, stattdessen setzt mal der eine, mal der andere zurück, nickt einem dann zu. Selbst in der anonymisierten Großstadt existiert Gemeinschaft.

Weil Sie den Verkehr angesprochen haben: Zuletzt gab es einen Unfall bei Wuppertal, weil mal wieder zwei Autos durch die Rettungsgasse gefahren sind. Rückwärts. Wo ist hier der Respekt geblieben?

Natürlich gibt es immer wieder Einzelfälle und die sind eklatant. Aber glauben Sie wirklich, dass sich die Menschen früher immer an Rettungsgassen gehalten haben? Ich halte eher das Gegenteil für wahr: Nur weil wir heute so perfekte Rettungsgassen haben, fällt es auf, wenn jemand diese missachtet.

Gut, anderes Beispiel: Vor allem männliche Jugendliche fallen durch Gewalt auf. Aus Mangel an Respekt. Das zumindest behaupten einige Ihrer Kollegen.

Das mag ein schönes Narrativ sein, ich wüsste nicht, wie ich das wissenschaftlich belegen sollte. Ich würde das eher auf biologische Unterschiede im Hormonhaushalt zurückführen - Testosteron zum Beispiel. Wir wissen, dass männliche Jugendliche ein höheres Aggressionspotenzial haben als gleichaltrige Frauen. Mit Respekt hat das wenig zu tun.

Polizisten beklagten sich zuletzt häufig über die zunehmende Respektlosigkeit.

Man muss auch sehen, dass sich der Respektbegriff verschoben hat. Wenn Amtsträger Respekt einfordern, meinen sie damit oft Gehorsam. Und in der Tat, der klassische Gehorsam hat abgenommen. Aber das ist nicht das Ende des Abendlandes, es ist ein Erfolg. Wenn nicht der maßgebliche Erfolg des Nachkriegsdeutschlands. Wir sind heute nicht mehr so obrigkeitsgläubig wie früher, wir sind kritisch - selbst wenn ein Chef, ein Richter, ein Politiker uns etwas befiehlt. Wir haben es geschafft, den Bürger mündig zu machen. Ihm eine Würde zu geben. Das ist doch unsere zentrale Maxime. Das kommuniziert nicht jeder perfekt, stimmt. Aber der Grundtenor stimmt schon. Ich glaube, wir sind nicht respektloser geworden, sondern sensibler.

Können Sie das belegen?

Leider nein. Ich bin Wissenschaftler, ich brauche Zahlen, die es hierzulande nicht gibt. Langzeitstudien aus den USA zeigen zumindest, dass das Wertegerüst über die Jahrzehnte überraschend stabil geblieben ist. Meine Theorie ist: Nicht der Respekt hat sich verändert, sondern wir haben nur unseren Würde-Sensor trainiert. Beispiel “Me Too”: Natürlich hätte derartige Belästigungen auch vor 20 Jahren kein Opfer gut gefunden, aber im Zweifel hätte man geschwiegen. Und die Gesellschaft hätte das Gefühl gehabt, es gebe keine Respektlosigkeit. Das stimmt natürlich nicht. Heute schweigen die Opfer nicht mehr, und das ist gut so. Wir sind mündig geworden. Es wird darüber berichtet und die Leute denken, alles ist schlimmer geworden.

Wieso jammern dann alle über die wachsende Respektlosigkeit?

Die Nostalgie, dass früher alles besser war, ist so alt wie die Menschheit. Sokrates wird ein Zitat zugeschrieben, in dem er über die schlechten Manieren der Jugend klagt, die den Respekt vor älteren Leuten verloren hat. Das Problem ist doch: Es gibt keine festgeschriebenen Regeln, Respekt verändert sich. Ich kann heute nicht mehr einfach für eine Frau beim Date bezahlen. Die Höflichkeit schreibt das vor, aber das heißt noch lange nicht, dass das auch respektvoll der Frau gegenüber ist. Im Gegenteil: Vielleicht ist sie emanzipiert, vielleicht will sie mir nichts schuldig sein.

Was heißt denn dann Respekt?

Wenn wir Forscher über zwischenmenschlichen Respekt reden, unterscheiden wir zwei Hauptformen. Habe ich Respekt, weil jemand etwas Besonderes leistet in einem mir wichtigen Bereich, also besser ist als ich? Das nennen wir bedingten, vertikalen Respekt. Der horizontale Respekt kommt nah an den Achtungsbegriff von Kant: Es geht darum, den anderen als gleichwürdig zu sehen. Dieser Respekt ist bedingungslos. Die einzige Kategorie, die ein Mensch dazu erfüllen muss, ist, dass er Mensch ist.

Wie sieht dieser bedingungslose Respekt konkret aus?

Dafür muss ich individuell auf den anderen eingehen. Zum Beispiel die ältere Dame im Bus: Aus Höflichkeit muss ich aufstehen, das kann aber im Einzelfall auch respektlos ankommen. Weil gerade diese Dame sich noch als rüstig wahrnimmt und herabgewürdigt fühlt. Respekt heißt nie: Ich weiß, wie es geht. Respekt funktioniert immer nur im Diskurs mit dem anderen.

Kann ich Respekt lernen?

Natürlich. Ich beschäftige mich hauptsächlich mit Respekt in der Arbeitswelt, aus einer persönlichen Biografie heraus. Ich habe immer viel gearbeitet und ich hatte Führungskräfte, die waren super. Andere waren grottenschlecht. Irgendwann wollte ich wissen, für wen will ich arbeiten, für wen nicht und warum? Bei wem erlebe ich Autorität als legitim, bei wem nicht? Das Ergebnis war, dass der vertikale Respekt ganz viel mit dem horizontalen Respekt zu tun hat. Wie ich einen Chef erlebe, hängt davon ab, wie er mit mir umgeht. Ob er mich als würdigen Menschen behandelt trotz der Hierarchie-Unterschiede. Und ich habe mir angeschaut, welche Kommunikationsmuster als besonders respektvoll empfunden werden.

Welche sind das?

Fragen Sie mal nach, hören Sie zu! Das klingt jetzt einfach, dennoch wird es wenig praktiziert in Führungsetagen. Die meisten hören zu, um zu antworten. Fragen werden gestellt, um selbst eine Antwort geben zu können, nicht um den anderen wirklich zu verstehen. Dabei wird gerade das als extrem respektvoll empfunden. Respekt ist eine Einstellung. Je mehr ich die Gleichwürdigkeit der anderen Menschen realisiere, desto weniger kann ich mich über den anderen hinwegsetzen.

Niels Van Quaquebeke - Portrait
Niels Van Quaquebeke, 42, ist Professor für Organisationspsychologie an einer privaten Hochschule in Hamburg. Er leitete die Forschungsgruppe Respect Research Group und beschäftigte sich ausführlich mit dem Respektbegriff. (Foto: Christin Schwarzer)

Können wir daraus auch etwas lernen für den politischen Diskurs?

Wir haben uns den deutschen Bundestag angeguckt und die Kandidatendebatten vor der letzten Bundestagswahl. Das Ergebnis war relativ klar: Der respektvolle Umgang mit dem politischen Gegner wird goutiert. Wenn ich respektvoll bin, werde ich als jemand wahrgenommen, der für die Gemeinschaft eintritt, der sie zusammenhält. Und das ist wichtig für meine Wahlintention und für meine Wahlentscheidung.

Dem widersprechen allerdings die Erfolge von Trump, Johnson und der AfD.

Die haben wir damals wirklich nicht für möglich gehalten. Im Nachhinein würde ich sagen: Der Respektfaktor ist eben nur einer von vielen.

Kürzlich hat das Berliner Landgericht geurteilt, dass die Grünen-Politikerin Renate Künast Beschimpfungen wie “Drecksfotze” auf Facebook hinnehmen müsse. Gilt Respekt im Internet nichts mehr?

Das ist keine Meinungsäußerung, das ist eine persönliche Attacke. Ich verstehe nicht, warum das Gericht in Berlin das nicht berücksichtigt hat. Aber andere Richter sehen das wie ich. Aber heißt das jetzt, dass Respekt im Internet nichts gilt? Ich glaube nicht. Wir verhalten uns in Gesellschaft anderer manchmal besser, als wir sind. Meine Frau und ich sagen immer, wir sind eine bessere Version unserer selbst, wenn wir mit Freunden zusammen sind. Es ist ein natürlicher, menschlicher Vorgang, dass wir im Privaten häufig rauer zueinander sind als in der Öffentlichkeit. Das Internet hat ein Zwischending geschaffen: Ich kann eine Rüpelhaftigkeit an den Tag legen, die ich sonst nur privat zeige - und sie ist öffentlich. Es gibt aber auch Studien, die erheben, dass die Menschen, die einen solchen Diskurs pflegen, eine absolute Minderheit sind. Ist deshalb das ganze Internet schlimm? Ist es an allem schuld? Müssen wir alles zensieren? Ich glaube nicht.

Wie sollen wir dann damit umgehen?

Wichtig ist die digitale Kompetenz. Also den Menschen früher und besser beizubringen, wie sie digital agieren können. Zivilcourage auch im Onlinebereich lehren. Es sieht zwar, wie im Fall von Renate Künast, nicht so aus, als ob jemand zusammengeschlagen wird, aber natürlich ist das trotzdem so.

Auch Erzieher und Lehrer klagen gerne, die Kinder heute hätten den Respekt verloren. Was sagen Sie dazu?

Ich habe selbst drei Kinder, und klar, Kinder sind von Natur aus nicht immer respektvoll. Das mögen Lehrer und Erzieher nicht gerne hören, aber je mehr Zeit unsere Kinder in Einrichtungen verbringen, desto mehr sind Einrichtungen für Erziehung gefragt. Bei uns in der Kita machen die Erzieher moderne Konfliktlehrgänge. Ich als Vater sage bei einem Streit: “Gib mir das Spielzeug; wenn ihr euch streitet, darf eben keiner damit spielen.” Der Erzieher sagt: “Erzähl du doch erst einmal und dann du, was hat das mit dir gemacht, warum ist das dir so wichtig?” Er nimmt sich Zeit und hört zu. Und wenn meine Frau und ich uns streiten, sagen die Kinder: “Ihr redet gar nicht richtig miteinander.” Sie haben verstanden, dass respektvoller Umgang anders funktioniert. Natürlich ist es am besten, wenn Kinder so in der Schule ankommen. Aber im Zweifel muss auch die Schule einen Teil des Erziehungsauftrags übernehmen. Das ist anstrengend, das muss man als Lehrer nicht mögen, aber es ist die Realität.

Welche Gefahren sehen Sie dann für unsere Gesellschaft?

Der Mensch kann nur in der Gruppe überleben. Anders als manche Ökonomen behaupten, sind wir ziemlich kooperativ. Die Frage, die sich nun gesellschaftlich stellt: Schaffen wir es, Gemeinschaften zu bilden, die inklusiv sind? Dass Menschen nicht in ihre Subgemeinschaften abdriften? Dafür muss man sie in Kontakt bringen. Ihnen zeigen: Oben, unten, rechts, links, ihr seid alle gar nicht so anders. In Dänemark gab es vor zwei Jahren eine wunderbare Werbung: Rocker, Bauern, Krankenschwestern, Manager in einem Raum. Man sieht ganz klar die einzelnen Gruppen. Und dann kommen die Fragen: Wer war früher Klassenclown? Wem wurde schon mal das Herz gebrochen? Und plötzlich steht da vorne ein Rocker neben einem Unternehmensberater. Da sieht man, dass diese oberflächlich unterschiedlich aussehenden Leute im Grunde alle Mensch sind. Mit den gleichen Ängsten und Wünschen.

Ist das auch ein Plädoyer dafür, weiter mit Rechtspopulisten zu reden?

Was ist denn die Alternative? Die moderne Gesellschaft muss, so schmerzlich das ist, auf Diskurs setzen, um in Kontakt zu bleiben. Nur wenn ich in Kontakt bleibe, wenn ich irritierbar bleibe, kann ich überzeugen. Ein Diskurs, der nur darauf setzt, zu überzeugen, ist kein Diskurs. Du musst mich verstehen, aber ich will auch dich verstehen, darum geht es doch. Vielleicht gibt es dann auch Positionen von AfD-Wählern, die man nachvollziehen kann. Vielleicht nicht die Äußerungen, aber zumindest die Ängste. Ich habe in der geschlossenen Psychiatrie mit Verbrechern gearbeitet und gelernt, dass ich nur mit ihnen in Kontakt treten kann, wenn ich versuche, sie zu verstehen. Das heißt nicht, dass ich gut finden muss, was sie getan haben. Ich hätte nie das Gleiche gemacht, aber ich konnte bestimmte Aspekte nachvollziehen. Wenn eine Gruppe meint, sie hat die Wahrheit für sich gepachtet, dann zersplittert die Gesellschaft. Das ist die Gefahr, nicht die Respektlosigkeit.

Sie sind ganz schön hartnäckig.

Mit Grund. Ich will nicht zu einer Wahrnehmung in der Bevölkerung beitragen, die die Realität verzerrt. Wir sprechen nur über die schlechten Nachrichten, dabei passiert doch so unendlich viel Gutes. Das ist gefährlich. Wir befeuern so eine Nostalgie auf der Basis völlig falscher Annahmen, die letztendlich Leute wie die in der AfD befördert. Leute, die mit dem Gefühl spielen, es sei alles schlechter, roher, respektloser geworden. Und dann wundern wir uns, dass die Menschen das glauben.

Quellen