Lasst alle Hoffnung fahren!

Es sei noch nicht zu spät, das Klima zu retten, heißt es immer wieder. Dabei hat die Katastrophe längst begonnen. Unsere letzte Chance? Melancholie.

Von Philipp Bovermann

Regen

Wie heroisch Verdrängung aussehen kann, dafür hat die Sky-Serie „Acht Tage“ Bilder gefunden. Dort rauscht ein Asteroid auf die wehrlose Erde zu. Er glüht am Himmel.
 
Gleich wird er einschlagen.
 
Trotzdem schreibt ein Polizist einen letzten Strafzettel. Und eine Mutter hält ihr Neugeborenes im Arm, erhobenen Hauptes, der Apokalypse trotzend.
 
Kameraschwenk zum Himmel.
Feuerbälle.
Abspann.

Kometen

Wenn nun die Klimakatastrophe langsam, aber mit der Wucht eines Asteroiden die Erde trifft, wird die Welt vielleicht genau so zugrunde gehen: Bevölkert von Menschen, die an der heiligen Ordnung der Dinge festhalten. Menschen, die noch den letzten Joghurtbecher recyceln, während bereits die Sandstürme über sie hinwegfegen. Menschen voller Hoffnung.

Es ist noch nicht zu spät. Diese Losung wiederholen nicht nur jene, die behaupten, es werde uns schon irgendwas einfallen, lieber machen wir erst mal „so viel wir können“, also wenig bis gar nichts. Man hört sie auch von Klimaschützern, die den Menschen die Dringlichkeit des Problems einschärfen und sie, mit einem Schluck Optimismus zum Nachspülen, zugleich vor Resignation bewahren wollen: Wir können es immer noch schaffen!

Allmählich ist es allerdings an der Zeit, die Hoffnung über Bord zu werfen und sich dem zu stellen, was die Klimawissenschaftler sagen: dass die Katastrophe nicht mehr zu verhindern ist und es nur noch darum geht, sie irgendwie zu begrenzen.

Zwölf Uhr auf der Doomsday Clock.
Geisterstunde für den Planeten.

Die Hoffnung zu verlieren, ist aber nicht nur die Geschichte eines Verlusts. Es ist auch eine neue Geschichte. Eine bislang verdrängte Welt tut sich vor dem inneren Auge auf. Ein infernalischer Realismus breitet sich aus. Andere Dinge spielen eine Rolle.  
Was kommt nach der Hoffnung?
Melancholie.

Um sie zu verstehen, um die Frage zu beantworten, warum die Melancholie vielleicht unsere letzte Rettung ist, müssen wir die Gegenwart verlassen, nicht in Richtung der Zukunft, sondern der Vergangenheit. Denn mit dem Aufziehen der Moderne verschwand die Melancholie.

Einst zirkulierten unterschiedliche Erklärungen dafür, wo diese hartnäckige Traurigkeit entsteht. Gemeinsam war ihnen, dass sie nicht unterschieden zwischen Geistigem und Körperlichem, ob der Melancholiker traurig ist, weil er sich traurig fühlt, oder ob die Welt ihm objektiv Anlass zur Trauer bietet und der melancholische Blick diesen nur aufdeckt. Erst Sigmund Freud sah den Grund jeglicher Traurigkeit einzig im Individuum selbst, das fortan auf sich gestellt – vom Therapeuten unterstützt – „Trauerarbeit“ zu leisten hatte. Die Melancholie war für Freud lediglich eine pathologische Störung in diesem Verarbeitungsvorgang.

Die hygienische Trennung der Zuständigkeitssphären von Außen und Innen, Natur und Kultur wurde damit zu einer scheinbar objektiv-wissenschaftlichen Tatsache. Wie es um die Welt bestellt war, durfte fortan keine Rolle mehr für die seelische Gesundheit spielen. Wer sich selbst als Melancholiker bezeichnete, geriet in Verdacht, Ausflüchte in einem wirren Weltschmerz zu suchen, um sich nicht mit sich selbst beschäftigen zu müssen.

Noch in der Epoche der Romantik waren die Dichter durch die Einsamkeit beseelter Wälder gestapft, voll düsterer Ahnungen, dass am Technikglauben und Fortschrittsoptimismus der Aufklärung irgendwas faul war. Seine unbestrittene Hochphase hatte der melancholische Trübsinn aber noch früher, im Barock. In den Trauerspielen dieser Zeit philosophierten Könige darüber, dass ihnen aller Prunk und Purpur im Grab auch nicht helfen werde, dann verloren sie den Verstand und starben, einfach so. Die unbeschreibliche Kleinheit des Menschen, die Eitelkeit und Vergeblichkeit sämtlicher Bemühungen – jene Empfindungen, die umweltbewusste und zugleich skeptisch veranlagte Menschen heute bisweilen an den Wertstofftonnen heimsuchen – gaben den Künstlern dieser Zeit schwer zu denken.

Ein beliebtes Thema barocker Malerei war der Verfall. Die Künstler malten Blumensträuße, teils schon verwelkt, Obst und Gemüse, das äußerlich noch voll im Saft steht, über das aber bereits das Ungeziefer krabbelt, als Exekutive der Fäulnis, die in allen Dingen waltet und nun künstlerisch hervorbricht.

Esstisch

In Zeiten unsichtbarer Treibhausgase und zeitverzögert sich entfaltender Klimaveränderungen erhält die barocke Kunst eine hochaktuelle Botschaft: Das Ende vollzieht sich genau jetzt. Das, was ihr fürchtet, ist längst der Fall, es ist nur noch nicht sichtbar.

Das Thema des Barock war die Schuld vor Gott und dem unabänderlichen Schicksalsgesetz alles Irdischen. Dieses ganz und gar unmoderne Gefühl stellt sich inzwischen wieder ein, angesichts der Bilder, die aus allen Teilen der Welt auftauchen:

Bilder von Flutwellen, die ganze Städte hinwegspülen, als wären sie Spielzeug.

Bilder von Waldbränden, die immer zahlreicher und tödlicher werden.

Bilder von Gletschern und Eisbergen, die schmelzen, bis sie schließlich verschwinden.

Ein selbst verschuldetes Schicksal, vor langer Zeit in Gang gesetzt, scheint sich zu erfüllen. Eine über Generationen aufgelaufene Schuld wird fällig.
 
Etwas geht zu Ende.

Das barocke „memento mori“ ist damit ein Gegenentwurf zu jenem Blick auf die Welt, wie er sich in den Inszenierungen auf Instagram ausdrückt. Die blühenden Rosen, die anscheinend unberührten Landschaften, aber auch das eigene Mittagessen, alltägliche Dinge verwandeln sich für den melancholischen Betrachter in Stillleben, in Zeugnisse der Vergänglichkeit. Sie vor Augen lässt sich die Natur betrauern, aber eben auch der Mensch, der dumme, kleine Mensch, der nun mal nicht aus seiner Haut kann und der mit dem Klimakollaps ebenso vom Untergang bedroht ist wie alle anderen Tierarten.

Gerade dies aber nimmt der Verzweiflung das Erdrückende. Wenn Schnee fällt und die Welt in Watte hüllt, stellen sich Melancholiker die Frage, ob die eigenen Enkel wohl noch Schneemänner bauen werden. Wenn die Vögel zwitschern und die Oktobersonne im Teich glitzert, denken sie finster daran, dass es um diese Jahreszeit scheußlich kalt sein sollte. Die Übersee-Avocado im Supermarkt verwandelt sich in ein Zeichen des Unheils, denn vermutlich war dort, wo sie gewachsen ist, einmal Regenwald. So verliert sie ihren Glanz, ihren Instagram-Warenfetisch. Sie verdorrt gewissermaßen vor dem inneren Auge und wird zum Miniatur-Stillleben des selbstsüchtigen Systems, in dem Menschen solche Produkte kaufen, obwohl sie den Preis dafür kennen. Wer sehen will, erkennt über der Warenauslage das Wort „Vanitas“, Eitelkeit, in dicken Lettern. Das aus kapitalistischer Sicht Radikalste geschieht: Es vergeht einem möglicherweise der Appetit.

In Albrecht Dürers allegorischem Kupferstich „Melencolia I“ glüht ein Gestirn am Nachthimmel. Es wurde unterschiedlich gedeutet, als Saturn oder Komet, Zeichen des Untergangs oder einer Zeitenwende. Eine geflügelte Gestalt brütet darunter mit finsterem Blick über Hammer, Zange, Nägeln, Säge, Hobel und Richtscheit. Die Gegenstände des tätigen Lebens liegen verstreut und ungenutzt auf dem Boden. Sie sind allegorische Zeichen geworden und bedeuten nun, ihren natürlichen Zusammenhängen entrissen, etwas anderes. Die Welt ist aus den Fugen und muss neu zusammengesetzt werden. Alles scheint der geflügelten Gestalt über den Kopf zu wachsen. Sie grübelt und rührt das Werkzeug nicht an. Sie legt gewissermaßen einen „Friday for Future“ ein. Was hat sie beizusteuern? Nichts. Und das ist vielleicht schon eine Menge.

Melancolia I

Der Philosoph Wilhelm Schmid schrieb 2012 in seinem Buch „Unglücklich sein“ gegen die „Diktatur des Glücks“ in einer Gesellschaft an, für die Produktivität der höchste, ja eigentlich der einzige Wert sei, während die Menschen über das Unglück nur noch eines wüssten: dass es umgehend zu überwinden sei. Aber er sah diesen stillen Imperativ seinem Ende entgegengehen. „Der Herbst kehrt ein auf dem Planeten, die Zeit der großen Trauer.“ Eine „neue Untröstlichkeit“ rühre von einem „sich anbahnenden Verhängnis“ her, nämlich der ökologischen Krise. „Zu lange wurde der blinde Glaube gepflegt, die Folgelasten des modernen Lebens und Wirtschaftens seien beherrschbar. Aber es zeichnet sich ab, dass die jüngeren Generationen mit immer größeren Problemen fertigwerden müssen, die die älteren hinterlassen, von großen Hoffnungen für die Beglückung der Menschheit keine Spur mehr.“

Sie ist da, diese kommende untröstliche Generation – und wird von grauhaarigen Sportwagenfahrern als Spaßbremse verhöhnt, wenn sie freitags für ein Ende der fossilen Brennstoffparty auf die Straße geht statt in die Schule. Andere maulen, diese Schulschwänzer sollten in ihre Bildung investieren. Aber nein, sie stehen lieber besorgt auf der Straße herum.

Wer glaubt, Klimaprotest sei eine heitere Angelegenheit, sollte mal bei der weltweiten Bewegung „Extinction Rebellion“ vorbeischauen. Sie organisiert Aktionen zivilen Ungehorsams, seit kurzem hat sie auch in Deutschland Zulauf.

Bei den Klima-Rebellen sind Symbolik und Sprache düster. Statt einpeitschender Reden hört man traurige Gedichte. Auf einem Banner, das Aktivisten auf der Londoner Westminster Bridge aufspannten, stand: „Climate Change: We’re Fucked.“

Frühere Generationen gingen auf die Straße, weil sie an eine bessere Zukunft glaubten. Die heutigen Klimaaktivisten tun das, weil ihr Glaube an die Zukunft schwindet. Darin liegt ein vorpolitisches Element: der Wunsch, die Welt anzuhalten anstatt darüber zu diskutieren, ob wir im fünften, im vierten oder vielleicht, wenn wir den Gürtel besonders eng schnallen, nur im dritten Gang weiter auf den Abgrund zurasen wollen.

Was nützt es, in Bildung zu investieren, wenn der Planet wegstirbt? Diese Frage stellen sich die Schüler, aber sie stellen sie auch an die Berufstätigen. An alle, die wollen, dass das, was sie tun, Bestand hat. Was nützt es, Websites zu programmieren, Häuser zu bauen, Filme zu drehen, Schwimmbäder zu sanieren, wenn der Planet nicht mehr bewohnbar ist? Angesichts der Klimakrise ist das alles Eitelkeit.

Unsere Welt – die Art, wie wir Menschen in westlichen Industrieländern leben – ist verloren. Es ist Zeit, sich von ihr zu verabschieden. Auch vom Röhren der Sechszylinder. Vom Brutzeln der Steaks. Was sollen wir tun? Zunächst einmal aufhören, so heillos produktiv zu sein. Und uns das alles mal grundsätzlich durch den Kopf gehen lassen. Notfalls in trostlose Untätigkeit verfallen.

Die entscheidende Frage wird dann lauten, ob die Melancholie der Lust am Untergang verfällt, so wie sie Lars von Trier im Film „Melancholia“ beschreibt. Dort geht es wiederum um den drohenden Einschlag eines Himmelskörpers, diesmal eines ganzen Planeten, der sich der Erdumlaufbahn nähert. Die meisten Menschen glauben, er werde ganz sicher vorbeiziehen, nur die von Kirsten Dunst gespielte Melancholikerin sieht klar, was kommen wird: Das Ende der Menschheit. Je näher es rückt, desto mehr blüht sie auf. Die gesellschaftliche Ordnung, in die sie ohnehin nie gepasst hat, ist dahin.

Ein letztes Bad im Glanz des tödlichen Gestirns.

Um sich politisch zu entzünden, darf die Melancholie nicht in der Betrachtung des kommenden Verlusts verharren, sonst ist sie nur ein als Schöngeistigkeit getarnter Zynismus. Sie muss das alte Denken zum Einsturz bringen und Platz schaffen: Für die Utopie.

Die Zeiger stehen auf zwölf Uhr. Endlich! Ein neuer Tag beginnt.

Dieser Artikel erschien erstmals am 21.05.2019 in der SZ. Die besten digitalen Projekte finden Sie hier.