“Statt am Donnerstag, wie es vorgesehen war, kam der Onkel Irmgards, Herr Carl Enders, erst am Sonntag. Wenn seine Frau Zweifel über Irmgards Sicherheit in Berlin äußerte, so sagte Herr Enders: »Du kennst Irmgard nicht! Du kennst die jungen Menschen von heute nicht!« Er verehrte den Fortschritt, die Jungend, alle neuen Erfindungen, das Tempo und den Sport. Er fühlte sich in der neuen Zeit wie zu Hause, und er konservierte seine Jugend und seine Gesundheit, nur um eine neuere zu erleben. Wenn er in einer der populärwissenschaftlichen Zeitschriften, die er abonnierte und die er mit einer verschwiegenen Geilheit las, als wären sie Pornographie, die Voraussage einer totalen Sonnenfinsternis in Mitteleuropa zu Ende des dritten Jahrtausends sah, so erschütterte ihn die Unmöglichkeit, tausende Jahre zu leben. Und es war in der Tat, wenn man ihn betrachtete, gar nicht einzusehen, aus welchem Grunde ein Mann wie er nicht unsterblich sein sollte. Seine Ingenieure und Beamten, seine Chemiker und seine Gehilfen, seine Werkmeister, seine Kassierer und seine Sekretäre arbeiteten für ihn, obwohl er selbst den ganzen Tag beschäftigt war, obwohl er selbst die Tätigkeit liebte und was er von ihr erzählen konnte. Er war zwecklos fleißig. Die Philosophen der Welt, die Dichter und Denker, die Erfinder und Entdecker dachten für ihn und lieferten seinem Gehirn die notwendige Nahrung. Um ihm eine Freude zu bereiten, überquerten Flieger den Ozean, umkreisten Rekordsammler die Erde auf Fahrrädern, Schlitten und Paddelbooten, gingen Forscher im Eismeer zugrunde, brachen Akrobaten das Genick beim dreimaligen Salto mortale. Er las mit Begeisterung am Ende eines jeden Jahres die Bilanz der Unglücksfälle und hielt alle überfahrenen Fußgänger für schuldig. Langsam sein und keine Geistesgegenwart haben hieß für ihn ein Verbrechen gegen das Tempo begehen, das er verehrte. Er selbst verspätete sich gerne, plauderte Überflüssiges, präsidierte zahllose Konferenzen, fuhr von Stadt zu Stadt, hielt sich in Museen auf, sammelte Minerale, besuchte Konzerte, in denen moderne Musik gespielt wurde, finanzierte moderne Wohn- und Nutzbauten und Theater, in denen die Regie überraschende Experimente machte. Vor dem Krieg war er einer der eifrigsten Anhänger Wilhelms des Zweiten gewesen, während des Krieges ein Annexionist, weniger aus politischer Überzeugung als aus Vorliebe für Katastrophen. Nach dem Umsturz wurde er einer jener demokratischen Konservativen, die es nur in Deutschland gibt: Sie können Patrioten sein und Kosmopoliten, sich in der Gesellschaft eines Prinzen geehrte fühlen und ihn mitleidig belächeln, den Sozialismus anerkennen und ihn für eine Utopie halten, Arbeitskolonien bauen und die Arbeiter aussperren, gute jüdische Freunde haben und Ehrenämter in antisemitischen Vereinen, für eine konservative Partei stimmen, sogar als deren Mitglied gewählt werden und sich über den Sieg der Linken freuen, den Bolschewismus ablehnen und die russischen Sowjets lieben.” [Joseph Roth, Rechts und links, Roman, Gustav Kiepenheuer, Berlin 1929]