Ja. Nein. Hilfe!

Nudelsorten, Urlaubsziele, Lebens­wege – warum ist es so schwierig, sich zu entscheiden? Und was macht diese ewige Quälerei mit uns?

Brettspiel oder Ballspiel? Schon an den einfachsten Fragen können Menschen schier verzweifeln.

Es. Nimmt. Einfach. Kein. Ende. Entscheiden, ständig entscheiden. Wir sollen uns entscheiden zwischen 48 Parteien (vergangene Bundestagswahl) und 32 Shampoos (Drogerieabteilung vorgestern). Zwischen 153 082 Urlaubszielen (booking.com heute morgen) und 1 104 112 Gebrauchtwagen (Autoscout gerade eben). Dazu der ganze Alltagskram, was sollen wir heute Abend essen, welches Wasser dazu trinken, welches Buch lesen, wann zum Sport gehen? Wissenschaftler haben errechnet, dass der moderne Mensch täglich um die 20 000 Entscheidungen treffen muss. Klingt absurd, kann aber gut stimmen. Es ist ja alles Entscheidung. Wir müssen unter Tausenden von Supermarktprodukten wählen und unter zahllosen Berufswegen, die ideale Zugticket-Kategorie finden, die gesündeste Zahnbürste, den idealen Lebensweg, wie auch immer der aussehen mag. Zu viel, viel zu viel. 20 000 Entscheidungen am Tag, 140 000 in der Woche, mehr als sieben Millionen im Jahr – und überall Menschen, die sich davon heillos überfordert fühlen.

Das einstige Zauberwort »multioptional« gilt längst als Fluch. Man kann fast von der Volkskrankheit Entscheidungsangst sprechen

Um zu sehen, wie sehr Entscheidungen inzwischen als Qual empfunden werden, genügt ein Spaziergang durch die Stadt. Buchhandlungen stellen täglich neue Bücher ins Schaufenster mit Titeln wie Entscheidungen treffen: Der Weg zur richtigen Entscheidung oder Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft oder Denken hilft zwar, nützt aber nichts–Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen. Zeitschriften wie Psychologie heute setzen alle Nase lang auf das Thema, Geo hat gerade erst ein Sonderheft veröffentlicht, Richtig entscheiden – die Kunst der guten Wahl. Abends ein Blick in den Fernseher: Super-Quoten für Dokumentationen über Menschen und ihre fundamentalen Lebensentscheidungen (Auswandern, Jobwechsel, Adoption). Vor jeder Wahl gigantische Klickzahlen für die Wahl-O-Maten im Internet. Und Fachzeitschriften wie das britische Decision Magazine (gibt es wirklich) sind voll von Studien über Menschen, die an ihren täglichen Entscheidungen verzweifeln.

Noch gibt es kaum statistische Zahlen darüber, aber Psychologen und Psychotherapeuten bestätigen einhellig, dass die Entscheidungsangst zum ernsthaften Problem der modernen Gesellschaft geworden ist. Vor Kurzem hat ein Aachener Professor ein »Entscheidungsnavi« vorgestellt, das Geplagten online mit gründlicher Datenauswertung helfen soll. Und Coaching-Zentren bieten massenweise Seminare an, die heißen »Entscheidungsfindung und Problemlösungskompetenz« oder »Entscheidungen schnell und sicher treffen – Ihr Methodenkoffer für erfolgreiche Entscheidungen«.

Entscheidung als Problem, als Hürde, als Qual. Was ist da los? Klar, die Zahl der Möglichkeiten in unserer Kaufen-Sie-jetzt-greifen-Sie-zu-Welt steigt ständig, immer mehr Angebot, immer mehr Lebensalternativen, Urlaubsziele, Neustartmöglichkeiten, Nudelsorten. Ist ja oft beschrieben worden, das eins­tige Zauberwort »multioptional« gilt längst als Fluch. Aber da muss noch mehr passiert sein. Man kann fast von der Volkskrankheit Entscheidungsangst sprechen. Warum tun wir uns so schwer mit Entscheidungen? Und was stellt die chronische Entscheidungsqual mit uns an?

Wer mit diesen Fragen anfängt, landet fast zwingend bei Professor Gerd Gigerenzer. Psychologe, 71 Jahre alt, Entscheidungsforscher. Zwanzig Jahre lang höchste Positionen am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, endlose Listen von Veröffentlichungen, Vorträge weltweit, TED-Talks, ein Leben voller Forschung am Menschen und dessen Entscheidungen. Gigerenzer sitzt in seinem Büro in Berlin vor einer Bücherwand, ein Professor wie aus dem Bilderbuch, Halbglatze, weißer Schnurrbart, wache Augen, sonore Stimme. Und erklärt schon mal einen von mehreren Gründen für die wachsende Entscheidungsangst: Das Problem sei nicht nur die Menge der Möglichkeiten, sondern auch der Mangel an Kriterien. »In der Vergangenheit glaubte man an unumstößliche Autoritäten, die einem viele Dinge bereits vorentschieden hatten. Religiöse Autoritäten, staatliche Autoritäten, Familienhierarchien«, sagt Gigerenzer. »Heute sind viele dieser Beschränkungen verschwunden oder zumindest brüchig geworden.« Hatten wir das nicht gerade noch als großen Erfolg der Neuzeit gefeiert? Aber wer selbst entscheiden darf, muss eben auch selbst entscheiden. Das ist dann eben Aufklärung nach Immanuel Kant, »der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Heißt anders gesagt: mündig werden, selber machen.

Lieber warm, lieber kalt? Die Qual der Wahl kann einem glatt die Vorfreude auf den Urlaub versauen.

Das ist anstrengend. Prompt sind wir ganz froh, wenn uns Entscheidungen abgenommen werden. Soll ich morgen wandern gehen oder lieber zu Hause bleiben? Hey, gerade wird der Wetterbericht schlecht, hat sich erledigt. Soll ich mir das un­nötige Rennrad bei Ebay gönnen oder nicht? Ah, jetzt hat’s mir jemand vor der Nase weggeschnappt. Schade, aber auch: Erleichterung.

Und es geht ja über den Einzelnen hinaus. »Das Problem der Entscheidungsangst betrifft nicht nur den Otto Normalverbraucher, der sich nicht mehr entscheiden kann angesichts des Konsumangebots und der Vielfalt der Produkte«, sagt Gigerenzer. »Es betrifft zunehmend auch große Firmen, wo Führungskräfte immer häufiger Angst haben, Entscheidungen zu treffen und damit Verantwortung zu übernehmen.«

»Zu Hause habe ich drei Kinder, im Büro zehn Mitarbeiter, das sind mir zu viele Entscheidungsfelder parallel«, sagt jemand im Entscheidungsseminar

Abteilungsleiter drücken sich um klare Worte, Vorstände reichen sich gegenseitig den Schwarzen Peter weiter, ob es nun um Abgasfilter oder Steuerlücken geht, Bundesminister geben die Verantwortung an McKinsey ab, für Millionenbeträge. Ein Irrsinn. »Ich habe mit vielen Dax-notierten Firmen gearbeitet«, erzählt Gigerenzer. »Wenn man mit Topmanagern unter vier Augen spricht, erweist sich, dass jede zweite Entscheidung, die sie treffen, im Grunde eine Bauchentscheidung ist. Sie würden das aber in der Öffentlichkeit nie zugeben. Bei rund der Hälfte aller Einsätze von Beratungsfirmen geht es in Wirklichkeit darum, bereits getroffene Entscheidungen im Nachhinein mit passenden Zahlen zu begründen.«

Ein System-Problem: Jede Entscheidung macht dem Einzelnen Angst, weil er selbst für sie geradestehen muss – kein Staat, kein Gott, kein Guru nimmt ihm das noch ab. Und so steht immer auch die Gesamtheit all dieser Einzelnen vor Entscheidungen wie die Ochsenherde vorm Berg.

 

Zeit für einen Seminarbesuch. Ein Tagungshotel am Stuttgarter Stadtrand, Raum »Renoir«, gleich neben Raum »Botticelli«, Tische, aufgestellt in U-Form, vier Frauen, fünf Männer, die sich helfen lassen wollen. Die Firma »Haufe Akademie« hat sich auf Coachings und Schulungen spezialisiert, Werbe-Claim: »Alles wird leicht«. Das Seminar heißt »Entscheidungen schnell und sicher treffen«, zwei Tage Vollprogramm inklusive Mittagessen gut 1500 Euro. Alle Teilnehmer sind hier, weil ihnen im Beruf die Entscheidungen über den Kopf wachsen. Der eine leitet ein Programmierer-Team, ständig heikle Budgetfragen, die andere organisiert eine Personalabteilung, jeden Tag menschliche Dramen. Die Dritte klagt, sie scheitere manchmal schon daran, sich in der Kantine zwischen verschiedenen Angeboten zu entscheiden, und so, wie sie das sagt, findet sie das gar nicht mal so lustig.

Der Seminarleiter, ein quirliger Mann, ehemaliger Unternehmensberater, lässt zu Beginn alle notieren: »Auf welche Frage will ich eine Antwort?« Ein Mann (IT-Branche) seufzt: Er sei ja schon froh, wenn er sich für eine einzelne Frage entscheiden könnte. Die Probleme, die die Teilnehmer dann beschreiben, klingen so: »Wenn bei uns in der Firma diskutiert wird, verliere ich mich zwischen all den Argumenten, ich versuche immer, alle zu berücksichtigen.« – »Zu Hause habe ich drei Kinder, im Büro zehn Mitarbeiter, mir sind das einfach zu viele Entscheidungsfelder parallel.« – »Ich traue mich nicht, eine Entscheidung zu fällen, wenn ich nicht absolut alle Fakten auf dem Tisch habe.«

Später eine Übung, in der die Teilnehmer aufschreiben sollen, was in ihren Berufen, in ihrem Leben Entscheidungen verhindert. Viel Diskussion, Begriffe fliegen durch den Raum, Stifte quietschen auf Flipcharts. Irgendwann ist die Liste fertig, an die 15 Zeilen. »Angst vor Konsequenzen« steht da, »Angst vor Widerstand«, »Angst vor Gesichtsverlust«. Fast immer das Wort Angst.

Der Seminarleiter hört sich alles in Ruhe an und sagt mit einem breiten Grinsen: »Ihr werdet hier rausgehen und eure Problem gelöst haben.« Dann spricht er viele Stunden lang von einer Menge »Tools«, gemeint sind alle möglichen Excel-Tabellen, die ein Beamer an die Wand wirft. Im Grunde müsse man da nur die Daten einer Entscheidungssituation eintragen, schon sei die Lösung ganz nah. Das klingt erst mal eher na ja. Aber tatsächlich zeigen sich viele der Teilnehmer dankbar. Wer sich zwingt, die Aspekte einer Entscheidung in eine Tabelle einzutragen und nach Wichtigkeit zu bewerten, fängt immerhin an, seine Gedanken zu ordnen. Und kommt leichter aus der Sackgasse als jemand, der gegen dieselbe Entscheidung immer wieder ganz von vorn anrennt. Als eine Teilnehmerin die erste Tabelle sorgfältig mit den Daten eines Büroprojekts befüllt hat, lacht sie und sagt: »Hey, so hab ich das noch nie gesehen!«

Atemlos geht es weiter durch die Tools, vom »Prüflistenverfahren« bis zur »Morphologischen Matrix«, von der »Kraftfeld­analyse« bis zum »Ishikawa-Diagramm«. Das Skript, das alle erhalten, umfasst knapp hundert Seiten. Mag sein, dass der eine oder andere Teilnehmer ratlos bleibt, aber manche sind nach diesen zwei Tagen tatsächlich erleichtert. Haben sich ein bisschen den Kopf sortiert. Sehen einen Pfad durch den Entscheidungs­dschungel. Mit der Excel-Tabelle als Geländer zum Festhalten. Allerdings meldet sich am zweiten Tag eine junge Frau und sagt: »Eine Frage hätte ich noch – wie um Himmels willen soll ich mich zwischen all diesen Tools entscheiden?«

 

Nach welchen biochemischen und hormonellen Mustern der Mensch seine Entscheidungen trifft, ist gut erforscht. Was die Verhaltensmuster angeht, haben sich in der Psychologie die meisten auf ein Modell des Nobelpreisträgers Daniel Kahneman geeinigt: Der Mensch schwankt demnach zwischen System 1 (unbewusste Prozesse, Bauchentscheidungen) und System 2 (kontrollierte Prozesse, analytisches Denken). Je stärker Ent­scheidungen mit Angst besetzt sind, umso eher versuchen Menschen, per System 2 zu entscheiden. In der Hoffnung, mit reichlich Datenauswertung werde man schon so richtig liegen wie nur möglich.

Aber es hilft ja nichts, wer ein Auto kauft, kann vorher so viele Fachmagazine lesen, wie er will, ein Kfz-Mechaniker mit vierzig Jahren Berufserfahrung wird aus ihm trotzdem nicht. Genug Information kann es kaum je geben. Ein Beispiel: In München gibt es den Gelben Sack nicht. Jeder zweite Münchner denkt, die Stadt sollte ihn doch einfach mal einführen, Mülltrennung, absolut sinnvolle Idee. Dann aber rechnet das Abfallwirtschaftsamt vor, dafür müssten so viel mehr Müllautos durch die Stadt kurven, dass die Abgase den positiven Effekt der Mülltrennung zunichte machen würden. Vielleicht. Oder auch nicht. So genau kann es am Ende eben keiner sagen. Ist ja nur Theorie. Wie soll da irgendjemand zu einer Entscheidung finden?

Hinzu kommt, dass jeder Mensch in jeder Situation als anderer Mensch entscheidet. Als Arbeitnehmerin so, als Mutter so, als Nachbarin so, als beste Freundin so … Der Münsteraner Islam­wissenschaftler Thomas Bauer hat vor Kurzem in dem Band Die Vereindeutigung der Welt festgestellt, es werde im öffentlichen Diskurs immer angenommen, »dass es jenseits dieser Rollen ein wahres Selbst gibt und dass es erstrebenswert ist, dieses wahre Selbst möglichst ungefiltert auszuleben«. Und so taucht noch bei den kleinsten Alltagsentscheidungen die Frage im Hinterkopf auf: Wenn ich A statt B sage, entspricht das denn wirklich mir und meinem tiefsten Inneren? Bin das ich?

Genau da wollen uns Firmen packen, die für ihre Produkte werben mit Slogans wie »Sei du selbst« oder »Entdecke dich neu«. Sie bedienen, noch mal Thomas Bauer, den »Konsumenten, der im Konsum von Massenware seine Identität findet«. Neulich hat der Chef des Nahrungsmittelkonzerns Danone in einem Interview gesagt: »Menschen haben immer eine Wahl. Jedes Mal, wenn wir etwas essen oder trinken, können wir uns entscheiden, in welcher Welt wir leben wollen.« Ja Hilfe, geht’s auch eine Nummer kleiner? Nein, eben nicht. Uns wird beigebracht, jede Entscheidung als Ausdruck unserer Persönlichkeit zu verstehen. Kein Wunder, dass das vielen zu heftig ist.

Hund oder Katze? Wer sich mit einer Entscheidung schwertut, schiebt sie womöglich ewig vor sich her.

Bleibt noch die Hoffnung auf die Maschine. Computer können Raketenbahnen berechnen und Symphonien komponieren, die Algorithmen sollen’s richten, also vertrauen Menschen auf Kennenlern-Portale und Online-Berufsberatung. Aber da winken die Entscheidungsforscher allesamt ab. Der Computer ist nur ein Werkzeug des Menschen. Die Maschine macht die Fehler, die man ihr einprogrammiert. Und mit Gefühlen und moralischen Fragen ist sie sowieso komplett überfordert. Wenn das selbst­fahrende Auto auf zwei Menschen zurast, wird es an der Entscheidung, wen von beiden es überfahren soll, genauso scheitern wie der Mensch.

Nicht mal die Algorithmen, denen viele längst ganz selbstverständlich vertrauen, helfen mit Sicherheit. Gerd Gigerenzer führt die Partnerbörsen an. »Alle elf Minuten verliebt sich ein Single über Parship.« Der Professor grinst und sagt: »Da melden Sie sich an und müssen nur elf Minuten warten, toll! Aber alle elf Minuten, das macht am Tag 130 Verliebte, im Jahr fast 50 000. Wenn Parship eine Million Kunden hat, sind das gerade mal fünf Prozent. Das ist Ihre rechnerische Chance, sich zu verlieben. Da können Sie zehn Jahre dabei sein und immer noch auf die große Liebe warten!« Nein, es hilft nichts, am Ende ist der Mensch mit seinen Entscheidungen allein.

 

Rudolf Wötzel hat früher jede Menge harte Entscheidungen getroffen. Der gebürtige Münchner war zwanzig Jahre lang Investmentbanker, er galt als Spezialist für öffentliche und feindliche Übernahmen. »Ja, bei den betroffenen Firmen konnte es auch zu Kündigungen und Schnitten kommen, das war Teil meiner ­Arbeit. Möglich war aber auch, dass das Überleben der Zielfirma gesichert wurde«, sagt er. Wötzel sitzt in einem Straßencafé in Lindau, er ist aus der Schweiz rübergekommen, wo er heute lebt. Ein braun gebrannter Mann, 56, grau melierte Locken, bubenhaftes Grinsen, entspannter Typ. In Spitzenzeiten arbeitete er hundert Stunden pro Woche, Entscheidungen im Minutentakt. Firmen bewerten, Präsentationen erstellen, Finanzierungen sichern, Verhandlungen führen, mehrere Projekte parallel, neue Deals, exekutieren, strukturieren … Irgendwann erste Risse. Bandscheibenvorfälle. Dann heftigere, Immunschwäche, jedes Jahr eine Lungenentzündung. Dann Burn-out. Panikattacken. Nachts um drei aus dem Bett hochschrecken mit 200 Puls.

»Die großen Entscheidungen gingen im Grunde weiter gut«, erzählt Wötzel, »aber dann kamen unkontrollierbare Ängste bei den ganz kleinen Tagesentscheidungen. So bricht sich das Bahn. Auf einmal steht man vor dem Supermarktregal und kann sich nicht zwischen zwei Salamis entscheiden.«

Er merkte, er muss raus aus der Welt der großen Ent­scheidungen. Und dazu brauchte er ausgerechnet: eine große Entscheidung. Er beschloss, ein halbes Jahr lang über die Alpen zu wandern. Das ging er an wie seine feindlichen Übernahmen. »Ich habe Spreadsheets gebaut wie ein Banker, mit Etappen, Telefonnummern – und musste dann sehr schnell lernen, wie nutzlos das Instrumentarium ist. Im Gebirge kann ich nicht entscheiden, wie ich will, ich muss mich nach der Natur richten. Wetter, Wege, Umwege …« Wötzel lernte, man kann das so sagen, Demut.

Heute lebt er in Graubünden und betreibt eine Berghütte, auf der auch Coachingseminare stattfinden. Er hält gestressten Managern die Natur entgegen. Den Berg, die Sonne, den Wind, das Gewitter. Also all das, was man mit den Worten von Gerd Gigerenzer unumstößliche Autoritäten nennen könnte. Wötzel sagt: »In der Natur gibt es keine Ausschüsse und Komitees, da kommt das Gewitter, da ist der Hang, da muss der Griff an den Fels. Deshalb gehe ich mit den Leuten in die Berge.« Dort gibt Wötzel ihnen weiter, was er da oben gelernt hat: Sieh ein, dass du nicht immer selbst der perfekte Entscheider sein kannst. Erkenne deine Grenzen. Nimm hin, dass der Berg für dich entscheidet.

Die Experten sind sich einig: Eine Entscheidung ohne Zweifel, ohne Risiko, ohne Fehler ist nicht möglich

Er erzählt die Geschichte von den zehn Vermögensverwaltern, die zu ihm auf die Hütte kamen. Die schickte er los, selbst einen Weg zu suchen, während er sich in die Sonne setzte und von unten zusah. »Ein paar Mutigere gingen schon mal ein Stück rauf, drei standen irgendwo am Rand und überlegten ewig, zwei stolperten ganz woandershin. Alle wuselten kreuz und quer über den Hang. Keiner wollte die Verantwortung ­übernehmen, aus Angst, den falschen Weg zu wählen. Es hat ewig gedauert, bis die zu einem gemeinsamen Weg gefunden haben.« Wötzel filmte das Ganze und zeigte es der Gruppe anschließend. Er musste nicht mal mehr erklären, was da schiefgelaufen war.

 

Was Wötzel bei seinen torkelnden Vermögensberatern sieht, beobachten auch Gigerenzer und andere Psychologen: Die Entscheidungsangst ist nicht nur ein Problem des Einzelnen, sie setzt sich fort in Gruppen, Verbänden, Regierungen, ganzen Staaten. Verhält sich Großbritannien beim Brexit nicht wie eine Traube Wanderer, die sich partout auf keinen Weg einigen können? Oder der Berliner Flughafen. Längst gibt es genug Experten, die sagen, es wäre sinnvoller, den BER abzureißen und neu zu bauen. Aber niemand wagt es, diese Entscheidung zu treffen. Denn die würde ja belegen, dass alle Entscheidungen zuvor falsch waren.

»Wir sind heute dabei, unsere Leistungskultur für eine ­Ab­sicherungskultur aufzugeben«, sagt Gerd Gigerenzer. »Und die wird uns als Gesellschaft massiv schaden. Wir werden langsamer, wir verschwenden Intelligenz, Zeit und Geld für Dokumen­tation und Rechtfertigung, also Dinge, die der ­Leistung gar nicht zuträglich sind.«

Noch so ein Beispiel: medizinische Versorgung. In den USA haben Ärzte zu Recht die Sorge, dass Patienten sie ver­klagen. Also betreiben US-Ärzte nach eigener Aussage defensive Medizin. Gigerenzer hat das in einer ausführlichen Studie untersucht, Ergebnis: Der Arzt denkt, für den Patienten wäre eine behutsame Behandlung am besten, er empfiehlt aber das volle Programm, unnötige Antibiotika, unnötige Vorsorge, unnötige Computertomo­grafie, unnötige Bypass-Operationen. Weil er denkt: Tue ich es nicht, und es passiert etwas, bin ich dran – tue ich es, und es passiert etwas, kann ich sagen, ich habe alles getan.

 

Hier der Arzt, der sich nicht für die Ideal­behandlung entscheidet, dort der Urlaubsbucher, der vor dem Computer festsitzt und sich nicht für ein Urlaubsziel entscheidet – was sie verbindet, ist im Grunde die gleiche Angst: der eine vor der Haftung gegenüber dem Pa­tienten, der andere vor der Haftung sich selbst gegenüber. ­Warum haben Sie nicht mehr getan? Warum habe ich nicht das bessere Hotel gewählt?

Es ist ein Elend. Wie um alles in der Welt sollen wir aber jetzt zu guten Entscheidungen finden? Da geben sie alle die gleiche Antwort, die Ratgeberbücher, der Seminarleiter, der Professor: Eine hundertprozentige Entscheidung, eine ohne Zweifel, ohne Risiko, ohne Fehler, ist nicht möglich. Punkt. Müssen wir so hinnehmen. Das Einzige, was wir tun können, ist, unsere Entscheidung weniger zu überfrachten. Die Selbstquälerei mindern, so gut es eben geht. In Kauf nehmen, dass wir scheitern können. Heißt ja nicht zwingend, dass wir scheitern müssen.

In der Entscheidungsforschung ist oft vom »Maximizer« und vom »Satisficer« die Rede. Der eine will unter allen Umständen die ideale Entscheidung, das Maximum – und wird zwangsläufig enttäuscht. Der andere begnügt sich mit einem So-gut-wie-Möglich – und wird auf Dauer glücklicher. Für das zweite Modell werben ausnahmslos alle Fachleute. »Hören Sie bei 97 Prozent auf, bevor die letzten drei Prozent Sie genauso viel Energie kosten!«, sagt der Seminarleiter. Und Gerd Gigerenzer erklärt: »Wer glaubt, er könne eine Entscheidung nur treffen, wenn er das Ergebnis mit Sicherheit weiß, ist schon verloren. Sie müssen den Mut haben, überhaupt eine Entscheidung zu treffen. Wenn Sie warten, bis Sie die unzweifelhaft beste Option finden, sind Sie vorher tot.«

 

Autorenschaft

Zu Max Fellmann

Max Fellmann hätte mehrere kleine Anekdoten gewusst, die für diesen Autorenkasten hier geeignet gewesen wären.