Das Leben mußte anders sein, als er es gesehen. Eine Frau, dienihn liebte, verriet ihn in der Not. Hätte er sie gekannt, niemals wäre es ihm zugestoßen. Was aber hatte er von ihr gekannt? Nur die Hüften, den Busen, ihr Fleisch, ihr breites Gesicht und den schwülen Hauch, den sie ausströmte. Woran hatte er geglaubt? An Gott, an die Gerechtigkeit, an die Regierung. Im Krieg verlor er sein Bein. Er bekam eine Auszeichnung. Nicht einmal eine Prothese verschafften sie ihm. Jahrelang trug er das Kreuz Kit Stolz. Seine Lizenz, die Kurbel einer Leierkastens in den Höfen zu drehen, schien ihm höchste Belohnung. Aber die Welt erwies sich eines Tages nicht so einfach, wie er sie in seiner frommen Einfalt gesehen hatte. Die Regierung war nicht gerecht. Sie verfolgte nicht nur die Raubmörder, die Taschendiebe, die Heiden. Offenbar geschah es, das sie sogar einen Raubmörder auszeichnete, da sie doch Andreas, dem Frommen, ins Gefängnis schloß, obwohl er sie verehrte. So ähnlich handelte Gott: Er irrte sich. War Gott noch Gott, wenn er sich irrte?

[…]

Am Nachmittag kam der Doktor. Er hegte Zweifel an der geistigen Gesundheit Andreas Pums. Er begann, sich mit dem Häftling zu unterhalten. Andas ergriff die Gelegenheit, auch dem Arzt seine Geachichte zu erzählen. Der Doktor tröstete. Der Direktor, sagte er, würde schon die Sache in die Wege leiten. Andread möge nur Vertrauen haben. »Aber die Spatzen zu füttern wird man Ihnen nicht erlauben! Es ist einafch zu umständlich. Man kann Ihnen doch nicht eine Leiter in die Zelle bringen!« »Wozu hab’ ich dann ein Gesuch geschrieben?« »Das ist Vorschrift. Wenn Sie einen Wunsch haben, müssen Sie ihn schriftlich äußern. Aber erfüllt wird er Ihnen nicht.« Der Doktor lächelte. Er war ein alter, beleibter Herr mit grauen Stoppeln auf Wangen und Doppelkinn. Er trug eine unmoderne, goldgeränderte Brille. »Überlassen Sie doch dem lieben Gott die Sorge um seine Vögel!« »Ach, Herr Doktor!« sagte Andreas traurig. »Manche sagen: Überlassen wir Gott die Sorge um seine Menschen! Dann sorgt sorgt sich Gott nicht!« Der Doktor lächelte wieder. »Es ist nicht gesund, ein Philosoph zu sein. Dazu reicht Ihre Kraft nicht. Man muß glauben, lieber Freund!« Der Doktor wusste bereits, daß er es mit einem Narren zu tun hatte; aber auch, daß dieser Narr ungefährlich war. Im übrigen hatte er noch im ganzen drei Wochen abzubüßen. Also beschloß er, Andreas sich selbst und seinen philosophischen Gedanken zu überlassen. Außerdem erwartete der Doktor heute seine Nichte. Er musste zur Bahn und vorher noch einmal nach Hause. Und da er ein Menschenfreund war, reichte er Andreas die Hand.