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[Essay non Joachim Käppner, Süddeutschen Zeitung vom 24.02.2018, Gesellschaft, http://sz.de/1.3877863]

Die Gäste kamen spät, und sie waren übler Laune. Die Airline hatte den letzten Flieger gecancelt und ihren gestrandeten Passagieren Zimmer in einem jener Kettenhotels gebucht, wie man sie im Umfeld jedes Flughafens findet. An der Rezeption saß Angela M., eine junge Auszubildende, der man den Spätdienst aufgedrückt hatte; nun wurde sie von genervten Leuten belagert, die alle eines wollten: sofort ein Zimmer. Es dauert natürlich, Gäste im Dutzend einzuchecken, und das Gemecker der Ungeduldigen und Wichtigtuer unter ihnen führte nicht zur Verbesserung der Abläufe.

Die Folge: ein kleiner Kübel voll digitalen Unrats. Schlechte Bewertungen für das Hotel, wenig Sterne: schlafmütziger Service; überfordertes Personal; nie wieder! In einem vernünftigen Betrieb würde sich der Chef anderntags informieren, was da los war in der Nacht, und im Zweifel seiner Auszubildenden sagen: Du kannst doch nichts dafür, wenn deren Flug ausfällt, mach dir keinen Kopf. Frau M.s Vorgesetzter jedoch starrte auf die bösen Bewertungen wie die Wüstenmaus auf die Klapperschlange. Die Ranking-Sterne sind für ihn die Währung, die sein Handeln bestimmt, und was diese Währung wirklich wert ist, spielt dabei keine Rolle. Kurze Zeit später wurde Angela M. entlassen.

Die schöne neue Welt der Bewertung ist fast allgegenwärtig. Am Sitz im Bahnwaggon: Bitte bewerten Sie Ihre heutige Fahrt! Im Modehaus an der Kasse: Bitte Knöpfchen drücken: War der Service :-) oder :-I oder :-(? Das Hotel fleht und bettelt geradezu nach Bewertungen, der Supermarkt ebenso, die Autovermietung, der Fahrradhändler, der Ebay-Verkäufer. Schüler bewerten ihre Lehrer, Patienten ihre Zahnärzte, sogar Häftlinge die Anstalt, in der sie einsitzen. Und hätte man sich die Informationsgesellschaft so vorgestellt, dass ihre Mitglieder über öffentliche Toiletten per Smiley-Touchpad urteilen?

Das Verfahren gegen Jameda zeigt den Widerspruch zwischen vermeintlicher Objektivität und beinharten Geschäftsinteressen

Aus kleinen Anfängen ist eine gewaltige Maschinerie geworden, die fast alle Lebensbereiche erfasst. Allein das führende Reiseportal Tripadvisor wirbt für sich, “mit über 500 Millionen authentischen Reisebewertungen können wir Ihnen dabei helfen, bei der Buchung von Hotels, Restaurants und Sehenswürdigkeiten die richtige Wahl zu treffen”. Wie irreversibel dieser Sog ist, fällt der Öffentlichkeit höchstens in den seltenen Fällen auf, in denen die reale Welt ein Rückzugsgefecht gewinnt, wenn etwa diese Woche die Ärzte-Bewertungsplattform Jameda vor dem Bundesgerichtshof eine Schlappe erleidet.

Das Verfahren, das eine Kölner Hautärztin angestrengt hatte, zeigte deutlich einen grundsätzlichen Widerspruch der digitalen Rating-Plattformen: jenen zwischen vermeintlicher Objektivität und Informationsfreiheit und den beinharten Geschäftsinteressen der Betreiber. Solche Interessen sind natürlich legitim, doch verstehen es die Internetkonzerne, sich dabei als Pioniere einer gerechteren Welt zu verkleiden. Zum Geschäftsmodell von Jameda, das der BGH nun verworfen hat, gehörte eine Zweiklassengesellschaft, in der die Zahlenden wesentlich günstiger auf den Seiten porträtiert werden als die Nichtzahlenden. Die Anwältin der Kölner Ärztin sprach sogar von “Schutzgeld”.

Um nicht missverstanden zu werden: Das Bewertungswesen ist tatsächlich ein Beitrag zur Demokratisierung. Es hindert den Wirt der “Pension zur fröhlichen Wanze”, seine Absteige als Boutique-Hotel zu vermarkten; es zwingt ein Restaurant, halbwegs einzuhalten, was es an Wohltaten verspricht; es sorgt dafür, dass sich ein PC-Hersteller lieber zweimal überlegt, ob er die Kosten für eine verständliche Gebrauchsanweisung wirklich wegsparen sollte. Online-Bewertungen geben allen Bürgern Gelegenheit, sich direkt zu äußern und auszutauschen, ob mit Kritik oder Lob. Auf Amazon bieten die Kundenrezensionen - ob zu neuen Büchern, Tauchermasken, Lego-Star-Wars-Raumschiffen oder dem Mithörcomputer “Alexa” - oft enorm viel Hilfreiches, das sonst nur schwer in Erfahrung zu bringen wäre.

Doch der Fortschritt ist teuer erkauft. Der Preis ermisst sich im Verlust an Differenzierung und in einer bis ins Manische gestiegenen Bereitschaft, vom Rollmops bis zur Regierung alles und jedes in Kinderförmchen der Kritik zu pressen. Die schöne neue Bewertungswelt ruft die Menschen dazu auf, sich als Richter über andere aufzuschwingen; doch wo der echte Richter dicke Gesetzbücher benötigt, genügt dem radikal-subjektiven Online-Richter ein Smartphone. Nicht Diskussion, nicht offene Debatte ist das oberste Ziel der Rankinggesellschaft, sondern das Werturteil, und zwar ein so einfaches, dass es sich mit einem bis fünf Sternen ausdrücken lässt.

Und gegen dieses Urteil ist Einspruch Betroffener nicht erwünscht; wer ihn dennoch versucht, läuft Gefahr, erst einmal unzulässigen Drucks oder der Bedrohung des demokratischen Diskurses verdächtigt zu werden. So wurde der Wirt einer Münchner Jazzbar, der ein “Nutzer” per Schmähkritik miserables Essen bescheinigte, obwohl es dort gar nichts zu essen gibt, vom Portal anfangs behandelt, als habe er einen Schlägertrupp losgeschickt - er hatte völlig zu Recht seinen Anwalt mobilisiert.

Dabei ist das Problem gar nicht in erster Linie der offene Missbrauch, also das Bewerten als Waffe der üblichen Hater und Trolle. “Die allgegenwärtige Sternchenbewertung fällt in eine Zeit, in der im Internet nicht mehr diskutiert wird, sondern nur noch gepöbelt”, monierte etwa die FAZ. Doch das wird der großen Mehrheit der Nutzer, die Sternchen vergeben, nicht gerecht (davon abgesehen, dass die Portale aus Eigeninteresse zumindest die übelsten Fälle löschen oder das zumindest behaupten). Das Problem ist das System selbst.

Welches Menschenbild zeichnet sich ab, wenn die Gesellschaft funktionieren soll wie eine riesige Ratingagentur, deren Regeln von den ökonomischen Interessen mächtiger Portale und Internetkonzerne bestimmt werden? In dieser Welt ist das Individuum, das mit Namen und Person für etwas steht, Objekt unablässiger Überprüfung durch eine mehrheitlich anonyme Masse. “Die einzige rationale Einstellung zur Geschichte der Freiheit besteht in dem Eingeständnis, dass wir es sind, die für sie die Verantwortung tragen, - in demselben Sinn, in dem wir für den Aufbau unseres Lebens verantwortlich sind.” So schrieb der Philosoph Karl Popper 1945 in seinem Hauptwerk “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde”.

Wer dagegen auf die Liquid Democracy setzt, auf die Menge der meist unbekannten User, erzeugt ein Gefälle zwischen jenen, die mit ihrer Person Verantwortung tragen, und den anderen, die genau das scheuen wie die FDP das Regieren. Gerade die verbreitete Anonymität ist mitverantwortlich dafür, dass die Bewertungsforen Manipulationen oder gleich groß angelegten Fälschungen Tür und Tor öffnen. Immer mehr Fälle werden bekannt, in denen Leute sich Vergünstigungen mit der Drohung verschaffen, den Laden, das Hotel, das Produkt sonst mies zu bewerten. Umgekehrt machen geschickte Firmen bereits ein Geschäft daraus, Rezensenten zu ködern - mit Freiexemplaren, Gutschriften oder schlichter Bestechung. Für ein paar Dutzend Euro bieten Firmen ganze Bewertungspakete an, 10, 50, 100 echt anmutende Kommentare - alles Fake.

Wie mit einer Live Cam lässt sich derlei auf dem Analyseportal reviewmeta.com verfolgen. Nehmen wir Montag, den 19. Februar, Amazon-Angebote: Bei “worst of” weit oben steht etwa die Anleitung für, was immer das sein mag, “Intermittierendes Fasten für Frauen”, angebliche Kundenzufriedenheit laut Bewertungen: 4,5 von fünf Sternen bei 56 Bewertungen insgesamt. Review Meta hat ein Analyseprogramm darüber laufen lassen, Ergebnis: Nur drei Bewertungen seien echt, hier liegt die Zufriedenheit bei sehr bescheidenen 2,2 Sternen. Bei der Peel-Off-Gesichtsmaske bleiben drei von 50 übrig, Gesamtwert desaströse 1,0 Sterne. Laut Review Meta sind mindestens 20 Prozent der Einträge in Bewertungsportalen Fälschungen.

Trotzdem ist das vielen Nutzern entweder nicht klar oder gleichgültig. Nicht wenige von ihnen vertrauen “dem Netz” mehr als der eigenen Erfahrung, mit der Folge, dass sie nichts mehr durch eigene Entdeckungen erfahren. Es gibt Leute, die im Urlaub ein noch so schönes Restaurant am Strand auf keinen Fall betreten, weil im Reiseportal negative Bewertungen stehen. Wer diese geschrieben hat und warum, interessiert sie nicht.

Zwischen der Welt des mündigen Verbrauchers und der des digitalen Blockwarts verschwimmen die Grenzen

Das ist so, als ob ein Fünftel aller Seiten eines Reiseführers vom Buchverlag oder dem Autor manipuliert oder völliger Nonsens wären, sich die Geheimtipps am Strand von Mykonos als Abzockerbuden mit Parkplatzblick entpuppen würden, die Sterne vergeben von den Saufkumpanen des Wirts und die Verrisse geschrieben von seinen Konkurrenten. Nie wieder würde man ein Buch dieses Verlags erstehen.

Die Grenzen verschwimmen zwischen der Welt des mündigen Verbrauchers und jener des digitalen Blockwarts. Noch problematischer wird es, wenn anonyme Bewertungen über Karrieren und Lebensläufe entscheiden. An vielen Universitäten sollen die Studenten zum Abschluss ihrer Kurse den Dozenten evaluieren, schriftlich und anonym. Von Aristoteles bis Adorno hat die Wissenschaft vom offenen Austausch auch zwischen Lehrer und Schüler gelebt, oft genug setzten sich die Schüler durch. Stattdessen raunt ausgerechnet die Universität ihrem Nachwuchs zu: Es ist doch besser und sicherer, ja sogar euer Grundrecht, nicht persönlich für das einstehen zu müssen, was ihr meint. Das ist der Geist, der Freiheit predigt und Feigheit schafft, der die Schwachen schützen will und sie in Wahrheit noch schwächer macht. Und vor was eigentlich schützen? Sich Gegenargumente anhören zu müssen? Oder Widerworte? Vor der Unbequemlichkeit, Farbe zu bekennen?

Garmisch-Partenkirchen, ein älteres Hotel; etwa sieben Umbauten früher muss es sehr schön gewesen sein. Heute sind nur noch die Preise gehoben, die Fenster schlecht isoliert und die Zimmer dunkel, im Bad flackerte eine Funzel. Als der Gast morgens zahlen will, fragt ihn der Angestellte am Empfang, ohne aufzublicken: “Waren Sie zufrieden?” Er fragt es im Ton eines Mannes, der eigentlich sagen will: Erzähl das jemanden, den es interessiert; aber das bin ganz sicher nicht ich. “Nein”, erwidert der Gast, “nicht besonders.” Der Portier sagt nur: “Na dann. 110 Euro bitte.”

Kurz durchzuckte den Gast der Gedanke, sich via Tripadvisor zu rächen, ein Stern nur und ein paar gemeine Worte. Aber es erschien ihm dann doch zu kleinlich und verbissen. Er fasste stattdessen einen naheliegenden Entschluss: einfach nicht wiederzukommen.

Dr. Joachim Käppner

Geboren 1961. Nach Ausbildung auf der Deutschen Journalistenschule in München Promotion in Geschichte und Redakteur des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblattes. Seit 1999 SZ-Redakteur mit Schwerpunkt Sicherheit, 2002 Stellvertretender Leiter Innenpolitik, 2006 bis 2010 Leiter der Lokalredaktion. Theodor-Wolff-Preis 1998, Herwig-Weber-Preis 2010; Quandt-Medienpreis 2011. Mit Robert Probst Herausgeber mehrerer historischer Bücher in der sz-edition (“1945 - Die letzten 50 Tage”; “Befreit, besetzt, geteilt”; “Der Zweite Weltkrieg - Die letzten Augenzeugen”), mit Wolfgang Görl und Christian Mayer Herausgeber von “850 Jahre München. Die Geschichte der Stadt”. Heimliche Leidenschaft: Streiflicht.