«Heutzutage kann man kein normales Gehirn besitzen» – der moderne Mensch leidet an einem kollektiven Aufmerksamkeitsdefizit. Wie gewinnen wir unser Denken zurück?

Während wir auf Bildschirme starren, geht uns die Welt verloren. Und wir uns selbst. Doch das muss nicht sein.

Als mein Patensohn Adam neun Jahre alt war, entwickelte er eine kurze, aber merkwürdig heftige Leidenschaft für Elvis Presley. Er fing an, lauthals «Jailhouse Rock» zu singen und wie der King höchstpersönlich leise zu summen und mit den Hüften zu wackeln. Als ich ihn eines Tages ins Bett brachte, sah er mich mit grossem Ernst an und fragte: «Johann, nimmst du mich irgendwann mit nach Graceland?» Ohne gross nachzudenken, stimmte ich zu. Ich verschwendete keinen weiteren Gedanken daran, bis alles schiefgelaufen war.

Zehn Jahre später war Adam verloren. Er hatte mit 15 die Schule hingeworfen und verbrachte fast seine gesamte Zeit damit, ausdruckslos zwischen Bildschirmen zu wechseln – ein Mischmasch aus Youtube, Whatsapp und Pornoseiten (zum Schutz seiner Privatsphäre habe ich seinen Namen und einige Details abgeändert). Er schien im Takt von Snapchat herumzuschwirren, und kein ruhiges oder ernsthaftes Thema konnte in seinem Denken irgendwie Halt gewinnen.

Während des Jahrzehnts, in dem Adam zum Mann geworden ist, scheint sich diese Fraktionierung bei vielen eingestellt zu haben. Unsere Fähigkeit, aufmerksam zu sein, beginnt zu zerfallen. Ich war gerade 40 geworden, und wo immer ich mich mit Leuten meiner Generation traf, beklagten wir unsere verlorene Konzentrationsfähigkeit. Ich las weiterhin eine Menge Bücher, doch mit jedem weiteren Jahr kam es mir immer mehr so vor, als liefe ich eine abwärts laufende Rolltreppe hinauf.

Als wir eines Tages bei mir auf dem Sofa lagen und ein jeder auf den eigenen, unablässig lärmenden Bildschirm starrte, sah ich ihn an und spürte ein leichtes Grauen. «Adam», sagte ich leise, «wir sollten Graceland besuchen.» Ich erinnerte ihn an mein Versprechen. Ich konnte erkennen, dass die Vorstellung, diese lähmende Routine zu durchbrechen, etwas in ihm auslöste. Doch ich nannte ihm die Bedingung, an die er sich zu halten hatte, wenn wir es machten. Er musste sein Smartphone den ganzen Tag über ausschalten. Er schwor, es zu tun.

Drehen Sie mal den Kopf!

An den Eintrittspforten von Graceland trifft man keine Menschen mehr an, deren Aufgabe es ist, einen herumzuführen. Man bekommt ein iPad, stöpselt sich Kopfhörer ins Ohr, und das iPad sagt einem, was man machen soll – nach links gehen, nach rechts abbiegen, vorwärtsgehen. In jedem Raum erscheint auf dem Bildschirm ein Foto des Ortes, an dem man sich befindet, während ein Sprecher ihn beschreibt. Während wir herumspazierten, waren wir von Leuten mit ausdruckslosen Gesichtern umgeben, die fast ständig auf ihre Smartphones blickten. In mir baute sich immer grössere Anspannung auf.

Als wir das Dschungelzimmer erreichten – Elvis’ Lieblingsort in dem Anwesen –, schnatterte das iPad drauflos; ein Mann mittleren Alters neben mir wandte sich zu seiner Frau, um ihr etwas zu sagen. Vor uns waren die grossen künstlichen Pflanzen zu sehen, die Elvis gekauft hatte, um das Zimmer in seinen persönlichen künstlichen Dschungel zu verwandeln. «Honey», sagte der Mann, «das ist wirklich erstaunlich, schau.» Er schwenkte das iPad zu ihr und fing an, darauf herumzuwischen. «Wenn du es nach links bewegst, dann siehst du darauf die linke Seite des Dschungelzimmers. Und wenn du es nach rechts bewegst, siehst du die rechte Seite des Raums.»

Seine Frau schaute genau hin, lächelte und begann, ihr eigenes iPad zu bewegen. Ich beugte mich nach vorn. «Sir», sagte ich, «da gibt es aber auch eine altmodische Bewegungsform, die Sie nutzen können. Man nennt es Kopfdrehen. Denn wir sind ja selbst hier. Sie können alles unmittelbar sehen. Hier. Schauen Sie.» Ich schwenkte die Hand, und die künstlichen grünen Blätter raschelten ein wenig. Ihre Augen wandten sich wieder den Bildschirmen zu. «Schauen Sie doch! Sehen Sie das nicht? Wir sind tatsächlich hier. Ihr Bildschirm ist nicht nötig. Wir befinden uns im Dschungelzimmer.» Sie machten sich davon. Ich schaute zu Adam, wollte über die Szene lachen – doch er stand in einer Ecke, hielt sein Smartphone unter der Jacke und blätterte sich durch Snapchat.

Nicht ohne mein Snapchat

An jeder Station des Ausflugs hatte er sein Versprechen gebrochen. Als das Flugzeug vor zwei Wochen in New Orleans aufsetzte, hatte er sein Smartphone schon hervorgekramt, während wir noch angeschnallt waren. «Du hast versprochen, es nicht zu benutzen», sagte ich. Er erwiderte: «Ich habe gemeint, ich würde nicht telefonieren. Ist doch klar, dass ich auf Snapchat und Textnachrichten nicht verzichten kann.» Das sagte er so ehrlich verblüfft, als hätte ich ihn aufgefordert, zehn Tage lang die Luft anzuhalten.

Im Dschungelzimmer schnappte ich plötzlich über, und ich versuchte, ihm das Smartphone aus der Hand zu winden; worauf er hinausstürmte. Am Abend traf ich ihn im Heartbreak-Hotel; er sass an einem Swimmingpool (in Form einer riesigen Gitarre) und schaute traurig vor sich hin. Als ich mich zu ihm setzte, wurde mir klar, dass mein Ärger über ihn im Grunde Ärger über mich selbst war (wie das bei Zorn oft der Fall ist). Diese Unfähigkeit, sich auf etwas zu konzentrieren, konnte ich auch bei mir beobachten. Ich verlor allmählich meine Fähigkeit, im Hier und Jetzt präsent zu sein, und das machte mich wütend.

Eine veritable Krise der Geistesgegenwart

«Ich weiss, dass etwas nicht stimmt», sagte Adam, das Smartphone fest in der Hand. «Aber ich habe keine Ahnung, wie ich das abstellen könnte.» Dann fing er wieder an, Textnachrichten zu tippen.

Da begriff ich, dass ich verstehen musste, was bei ihm und so vielen anderen wirklich ablief. Wie sich herausstellte, war dieser Augenblick der Beginn einer Reise, die meine Ansichten über Aufmerksamkeit verändern sollte. In den folgenden drei Jahren reiste ich in der Welt herum – von Miami über Moskau nach Melbourne – und interviewte die führenden Experten zum Thema Aufmerksamkeit.

Dabei kam ich zu der Überzeugung, dass wir es nicht nur mit einer normalen Befürchtung wegen der Konzentrationsfähigkeit zu tun haben, wie sie jede älter werdende Generation durchläuft. Wir leben in einer veritablen Krise der Geistesgegenwart, die unsere Art zu leben zutiefst betrifft. Ich erfuhr, dass die Fähigkeit der Menschen, aufmerksam zu sein, nachweislich durch zwölf Faktoren beeinträchtigt wird und dass sich viele dieser Faktoren in den vergangenen zwei Jahrzehnten verstärkt haben – manchmal auf dramatische Weise.

Mehr als eine Minute Konzentration liegt nicht drin

In Portland, Oregon, interviewte ich Professor Joel Nigg, einen der weltweit führenden Experten für Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern. Er meinte, wir müssten uns fragen, ob wir mittlerweile «eine pathogene Aufmerksamkeitskultur» entwickelten – eine Umgebung, in der es für alle schwieriger sei, sich ausdauernd und intensiv auf etwas zu konzentrieren. Auf die Frage, was er denn täte, wenn er für unsere Kultur verantwortlich wäre und tatsächlich dafür sorgen wollte, die Aufmerksamkeit der Menschen zu zerstören, meinte er: «Möglicherweise genau das, was unsere Gesellschaft gerade tut.»

Professorin Barbara Demeneix, eine führende französische Wissenschafterin, die einige Schlüsselfaktoren untersucht hat, welche die Aufmerksamkeit stören können, sagte unverblümt: «Heutzutage gibt es keine Möglichkeit, ein normales Gehirn zu besitzen.» Die Effekte können wir alle in unserer Umgebung erkennen.

Eine kleine Studie mit Studenten hat ergeben, dass sie sich inzwischen nur für 65 Sekunden auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren können. Eine andere Studie mit Büroangestellten hat gezeigt, dass sie sich im Schnitt nur für drei Minuten konzentrieren. Das geschieht nicht, weil wir alle persönlich willensschwach geworden sind. Unsere Konzentrationsfähigkeit ist nicht zusammengebrochen. Sie wurde uns gestohlen.

Hilft die Abstinenz?

Als ich von Graceland zurückkam, glaubte ich, meine Aufmerksamkeit lasse nach, weil ich persönlich nicht stark genug und von meinem Smartphone übernommen worden sei. Ich geriet in eine Spirale negativer Gedanken und machte mir Vorwürfe; ich sagte mir, du bist schwach, du bist nachlässig, du bist nicht diszipliniert genug. Ich glaubte, die Lösung liege auf der Hand: mehr Disziplin, und das Smartphone wird verbannt.

Also mietete ich online ein kleines Zimmer in Strandnähe in Provincetown an der Spitze von Cape Cod. Triumphierend teilte ich allen mit: Ich werde drei Monate hier verbringen, ohne Smartphone und ohne Computer, der mit dem Internet verbunden ist. Ich bin absolut fertig. Ich bin es leid, im Netz zu sein.

Mir war klar, dass ich das nur machen konnte, weil ich Glück hatte und durch meine bisherigen Bücher über Geld verfügte. Ich wusste, dass es keine Dauerlösung sein konnte. Ich machte es, weil ich glaubte, wenn ich es nicht machte, verlöre ich vielleicht einige entscheidende Aspekte meiner Fähigkeit zu tiefem Nachdenken. Wenn ich alles für eine gewisse Zeit zurückfuhr, hoffte ich ausserdem, allmählich den Blick dafür zu bekommen, welche nachhaltigeren Veränderungen wir vornehmen könnten.

In meiner ersten Woche ohne Internet irrte ich durch eine nebelhafte Entspannung. Provincetown ist ein kleiner Schwulenort mit dem höchsten Anteil gleichgeschlechtlicher Paare in den USA. Ich ass Cupcakes, las Bücher, unterhielt mich mit Fremden und sang. Alles lief radikal langsamer. Normalerweise verfolge ich ungefähr stündlich die Nachrichten, was mir häppchenweise furchteinflössende Fakten vermittelt, und versuche, sie so zusammenzurühren, dass sie eine Art Sinn ergeben. Stattdessen las ich einfach einmal täglich eine physische Tageszeitung. Alle paar Stunden spürte ich, wie ein ungewohntes Gefühl in mir gluckerte, und ich fragte mich, was das sein konnte. Ach ja: Ruhe.

Die Beschleunigung macht uns langsamer

Als ich später die Experten interviewte und ihre Forschungsergebnisse studierte, wurde mir klar, dass es viele Gründe gab, weswegen meine Aufmerksamkeit sich vom ersten Tag an wieder besserte. Professor Earl Miller, Neurowissenschafter am Massachusetts Institute of Technology, erklärte mir einen davon. Er sagte, bewusst könne mein Gehirn jeweils nur einen oder zwei Gedanken produzieren. Mehr nicht. «Geistig sind wir alle sehr, sehr eingeschränkt.» Doch wir seien einer enormen Täuschung erlegen. Der durchschnittliche Teenager glaube inzwischen, es sei möglich, sechs Medienformaten gleichzeitig zu folgen.

Als Gehirnforscher das untersuchten, stellte sich heraus, dass die Leute, wenn sie glauben, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, in Wahrheit jonglieren. «Sie springen hin und her. Das Umschalten fällt ihnen nicht auf, weil ihr Gehirn den Sprung gewissermassen überspielt, um den Eindruck eines zusammenhängenden Bewusstseins zu erzeugen. Doch in Wahrheit schalten sie um und richten ihr Gehirn von einem Augenblick zum anderen, von einer Aufgabe zur nächsten neu aus, und das ist nicht gratis zu haben.»

Man wird langsamer

Man stelle sich beispielsweise vor, dass man seine Steuererklärung erledigt, wobei eine Textnachricht ankommt, die man sich ansieht – nur mit einem kurzen Blick, vielleicht drei Sekunden lang –, worauf man sich wieder der Steuererklärung zuwendet. In diesem Moment «muss Ihr Gehirn sich beim Wechsel von einer Aufgabe zur anderen neu einstellen», erklärte Professor Miller. Man müsse sich an das erinnern, was man vorher getan habe, und auch an das, was man sich dazu gedacht habe. Wenn das geschieht, zeigt sich deutlich, dass die Leistung abfällt. Man wird langsamer. Alles wegen des Umschaltens.

Das nennt man den «Umschaltkosten-Effekt». Das heisst, wenn man seine Textnachrichten checkt, während man zu arbeiten versucht, verliert man nicht nur die winzigen Zeitabschnitte, in denen man den Text betrachtet – man verliert auch die Zeit, die nötig ist, um sich danach wieder zu konzentrieren, was sich als eine ganze Menge erweist.

So hat das Labor für die Untersuchung der Interaktion zwischen Mensch und Computer an der Carnegie Mellon University 136 Studierende an einem Test teilnehmen lassen. Einige sollten dabei ihr Smartphone ausgeschaltet lassen, die anderen liessen es eingeschaltet und empfingen immer wieder Textnachrichten. Diejenigen, die Nachrichten erhielten, zeigten eine im Schnitt um 20 Prozent schlechtere Leistung. Mir kommt es so vor, als würden wir derzeit alle diese 20 Prozent unserer Hirnleistung verlieren – und das fast ständig. Miller meinte mir gegenüber, wir würden derzeit «in einem vollendeten Sturm kognitiven Abbaus» leben.

Die Welt als Selfie-Hintergrund

In Provincetown erledigte ich zum ersten Mal seit sehr langer Zeit immer nur eine Sache, ohne unterbrochen zu werden. Ich lebte in den Grenzen dessen, was mein Gehirn tatsächlich bearbeiten konnte. Ich spürte, wie meine Aufmerksamkeit wuchs und sich mit jedem Tag verbesserte, doch eines Tages erlebte ich einen Rückfall.

Ich spazierte am Strand entlang, und alle paar Schritte sah ich genau das, was mich seit Memphis umgetrieben hatte. Die Leute schienen Provincetown schlicht als Hintergrund für Selfies zu nutzen; sie hoben selten den Blick, um das Meer oder einander anzusehen. Dieses Mal aber war ich nicht versucht, ihnen zuzurufen: Ihr vergeudet euer Leben, steckt das verdammte Smartphone weg. Vielmehr wollte ich rufen: Gebt das Smartphone mir. Mir!

So lange hatte ich alle paar Stunden täglich die schwachen, beharrlichen Signale des Internets empfangen, das Tröpfeln der Likes und Kommentare, die einem sagen: Ich sehe dich. Du bist wichtig. Jetzt waren sie verschwunden. Als Simone de Beauvoir zur Atheistin geworden war, sagte sie, es fühle sich an, als sei die Welt plötzlich verstummt. Der Verlust des Internets fühlte sich genau so an. Nach der rhetorischen Wärme von Social Media kamen mir normale zwischenmenschliche Interaktionen angenehm, aber schwächlich vor. Keine normale soziale Interaktion überschüttet einen mit Herzchen.

Ich begriff, dass es zur Heilung meiner Aufmerksamkeit nicht ausreichte, einfach nur Ablenkungen zu eliminieren. Das verschafft einem zunächst ein gutes Gefühl – doch dann sorgt es dort, wo all der Lärm war, für ein Vakuum. Also begann ich ausgiebig über einen Bereich der Psychologie nachzudenken, von dem ich vor Jahren gehört hatte: die Wissenschaft von den Flow-Zuständen. Fast jeder, der dies liest, wird irgendwann einen Flow-Zustand erlebt haben – immer dann, wenn man etwas macht, das Bedeutung für einen hat, und völlig darin aufgeht, so dass die Zeit bedeutungslos wird, das eigene Ego zu verschwinden scheint und man sich tief und mühelos konzentriert. Flow ist die tiefste Form der Aufmerksamkeit, die Menschen aufbringen können. Aber wie kommen wir dorthin?

Der Weg zurück

Später interviewte ich Professor Mihály Csíkszentmihályi, der als erster Wissenschafter Flow-Zustände untersucht und mehr als vierzig Jahre darüber geforscht hat. Seinen Forschungsergebnissen entnahm ich, dass drei zentrale Faktoren erforderlich sind, um in einen Flow-Zustand zu geraten. Erstens muss man sich ein Ziel wählen. Der Flow benötigt die gesamte mentale Energie, die willentlich in eine Richtung gelenkt wird. Zweitens muss dieses Ziel für einen selbst bedeutsam sein – für ein Ziel, das einen nicht besonders interessiert, kann man nicht in den Flow geraten. Drittens ist es hilfreich, wenn das Vorhaben einen an die Grenze der eigenen Möglichkeiten bringt – etwa, wenn der Berg, den man besteigen will, ein wenig höher und schwieriger ist als der letzte bezwungene Berg.

Also begann ich jeden Morgen mit dem Schreiben – auf eine Art, sie sich von meiner früheren Arbeit unterschied und mich forderte. Innerhalb weniger Tage begann ich im Flow zu arbeiten, und es vergingen Stunden in voller Konzentration, ohne dass es sich wie eine Herausforderung anfühlte. Ich hatte den Eindruck, mich auf eine Weise zu konzentrieren, die ich als Teenager erlebt hatte – über lange, mühelose Strecken. Ich hatte befürchtet, mein Gehirn könnte kaputtgehen. Als mir klarwurde, dass unter den richtigen Umständen seine ganze Kapazität zurückkommen konnte, weinte ich vor Erleichterung.

Am Ende sass ich am Strand und sah zu, wie das Licht sich langsam veränderte. Das Licht am Cape Cod ist anders als das Licht an jedem anderen Ort, den ich erlebt habe, und in Provincetown konnte ich klarer sehen als je zuvor im Leben – meine Gedanken, meine Ziele, meine Träume. Ich lebte im Licht.

Als es dann an der Zeit war, das Strandhaus zu verlassen und in die hyperverlinkte Welt zurückzukehren, gewann ich die Überzeugung, den Code der Aufmerksamkeit geknackt zu haben. Ich kehrte in die Welt zurück und war entschlossen, diese Lektion in mein Alltagsleben einzubringen. Als ich nach der Überfahrt mit der Fähre wieder mit Smartphone und Laptop vereint war, die ich in Boston versteckt hatte, kamen sie mir fremd und befremdlich vor. Doch schon nach ein paar Monaten war ich wieder bei vier Stunden täglicher Bildschirmzeit, und meine Aufmerksamkeit zerfaserte und verschlechterte sich erneut.

Als trügen wir Gasmasken

In Moskau erklärte mir der ehemalige Google-Ingenieur James Williams – er ist zum bedeutendsten Philosophen der Aufmerksamkeit in der westlichen Welt geworden –, dass ich einen entscheidenden Fehler gemacht hätte. Individuelle Enthaltsamkeit sei «nicht die Lösung, aus dem gleichen Grund, wie es keine Reaktion auf die Luftverschmutzung ist, wenn man an zwei Tagen der Woche eine Gasmaske trägt. Damit kann man vielleicht für kurze Zeit manche Wirkungen fernhalten, doch es ist nicht nachhaltig und geht nicht auf die systemischen Fragen ein.»

Er meinte, unsere Aufmerksamkeit sei von ungeheuren invasiven Kräften der Gesellschaft insgesamt zutiefst verändert worden. Die Aufforderung, einfach nur die eigenen Gewohnheiten zu ändern – etwa zu schwören, man werde das Smartphone beiseitelegen –, laufe darauf hinaus, «es an den Einzelnen zurückzureichen», wenn «es in Wahrheit Änderungen der Umwelt sind, die den Unterschied ausmachen».

Professor Nigg meinte, ich könne vielleicht besser verstehen, was gerade passiert, wenn wir unsere zunehmenden Aufmerksamkeitsprobleme mit der wachsenden Rate der Fettleibigkeit verglichen. Vor fünfzig Jahren habe es kaum Fettleibigkeit gegeben, heute dagegen sei sie in der westlichen Welt endemisch. Das liege nicht daran, dass wir gierig oder masslos geworden seien. Er sagte: «Fettleibigkeit ist keine medizinische, sondern eine gesellschaftliche Epidemie.» Unser Lebensstil habe sich dramatisch verändert – unsere Nahrungsmittel seien andere, und wir hätten Städte gebaut, in denen es schwierig sei, zu Fuss oder mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Etwas Ähnliches, meinte er, dürfte sich bei den Veränderungen unserer Aufmerksamkeit abspielen.

Was wir tun können

Ich begriff, dass die Faktoren, die unsere Aufmerksamkeit beeinträchtigen, nicht alle offensichtlich sind. Anfangs hatte ich mich auf die Technologie konzentriert, doch tatsächlich gibt es bei den Ursachen eine grosse Bandbreite – von unserer Ernährung über die Luft, die wir atmen, bis hin zu den Arbeitszeiten und den Stunden, die wir nicht mehr schlafen. Es sind viele Dinge dabei, die wir inzwischen als gegeben ansehen – von der Art, wie wir unseren Kindern das Spielen vorenthalten, bis hin zu unseren Schulen, die alles auf Prüfungen abstellen und so vernachlässigen, wie man Bedeutung erkennt.

Ich glaube inzwischen, dass wir auf diese unablässige Besetzung unserer Aufmerksamkeit auf zwei Ebenen reagieren müssen. Die erste betrifft das Individuum. Auf der persönlichen Ebene können wir unsere Konzentration mit einer ganzen Reihe von Veränderungen schützen. Ich zum Beispiel glaube, meine Aufmerksamkeit um etwa 20 Prozent verbessert zu haben, indem ich die meisten von ihnen umgesetzt habe. Doch wir müssen die Menschen einbeziehen. Diese Änderungen bringen einen nur bis zu einem bestimmten Punkt.

Im Moment scheint es, als würden wir den ganzen Tag mit Juckpulver bepudert, und die Leute, die das Pulver verstreuen, sagen uns: «Vielleicht solltet ihr zu meditieren lernen, dann werdet ihr euch nicht mehr so viel kratzen.» Meditation ist ein nützliches Werkzeug – doch im Moment müssen wir die Leute aufhalten, die ständig Juckpulver verbreiten. Wir müssen uns verbünden, um gegen die Mächte vorzugehen, die unsere Aufmerksamkeit stehlen, und unsere Konzentration zurückholen.

Das mag ein wenig abstrakt klingen – aber ich habe vielerorts Leute getroffen, die das umgesetzt haben. Zum Beispiel: Es gibt starke wissenschaftliche Belege dafür, dass Stress und Erschöpfung unsere Aufmerksamkeit beeinträchtigen. Heutzutage haben 35 Prozent der Beschäftigten das Gefühl, sie könnten ihr Smartphone niemals abschalten, weil ihr Boss zu jeder Tageszeit eine Mail schicken könnte.

Moralische Panik?

In Frankreich beschlossen ganz normale Arbeitnehmer, das sei unzumutbar, und drängten die Regierung, das zu ändern – und so gibt es dort nun ein gesetzliches Recht zum «Abschalten». Es ist ganz einfach. Man hat ein Recht auf festgelegte Arbeitszeiten, und man hat das Recht, ausserhalb dieser Zeiten vom Arbeitgeber nicht kontaktiert zu werden. Firmen, die gegen diese Regeln verstossen, drohen hohe Bussgelder.

Es gibt eine Menge solcher potenzieller kollektiver Änderungen, die unsere Konzentration zum Teil wieder herstellen können. So könnten wir die Unternehmen der sozialen Netzwerke dazu zwingen, ihr gegenwärtiges Geschäftsmodell aufzugeben, das darauf ausgelegt ist, unsere Aufmerksamkeit zu infiltrieren, damit wir weiterscrollen. Es gibt alternative Möglichkeiten für die Arbeitsweise dieser Websites – solche, die unsere Aufmerksamkeit heilen, statt sie zu untergraben.

Einige Wissenschafter meinen, diese Besorgnisse seien eine moralische Panik, vergleichbar mit den Befürchtungen der Vergangenheit wegen Comics oder Rap-Musik. Andere sagen, die Belege seien erdrückend und die Besorgnisse glichen den frühen Warnungen wegen der epidemischen Fettleibigkeit oder der Klimakrise in den 1970er Jahren.

Zurückholen von denen, die das Denken gestohlen haben

Angesichts dieser Ungewissheit glaube ich, dass wir nicht auf eine umfassende Beweislage warten können. Wir müssen auf der Basis einer vernünftigen Risikoabschätzung handeln. Wenn diejenigen, die vor den Auswirkungen auf unsere Aufmerksamkeit warnen, danebenliegen und wir weiterhin machen, was sie vorschlagen: Was würde uns das kosten? Wir verbrächten weniger Zeit damit, von unseren Chefs drangsaliert zu werden, und wir würden weniger durch Technologie verfolgt und manipuliert werden – dazu kämen viele andere Verbesserungen, die in jedem Fall wünschenswert für unser Leben sind.

Doch wenn sie richtigliegen und wir nicht machen, was sie vorschlagen: Was würde das kosten? Wir würden – wie mir der frühere Google-Ingenieur Tristan Harris sagte – heruntergefahrene Menschlichkeit erleben und uns unserer Aufmerksamkeit genau in dem Moment berauben, in dem wir mit grossen kollektiven Krisen konfrontiert sind, die ihrer mehr denn je bedürfen.

Doch nichts wird sich ändern, solange wir nicht dafür kämpfen. Wir brauchen jetzt, wie ich glaube, eine Aufmerksamkeitsbewegung, die unser Denken zurückfordert. Ich glaube, wir müssen dringend handeln, weil es vielleicht so ist wie bei der Krise des Klimas oder der Fettleibigkeit – je länger wir warten, desto schwieriger wird es. Je mehr unsere Aufmerksamkeit abbaut, desto schwieriger wird es, die individuelle und politische Energie zu mobilisieren, mit der wir die Kräfte bekämpfen, die unsere Konzentration stehlen.

Der erste Schritt dazu ist ein Bewusstseinswandel. Wir müssen aufhören, uns selbst die Schuld zu geben oder unsere Arbeitgeber und Technologiefirmen um winzige Verbesserungen zu bitten. Unser Denken gehört uns – und gemeinsam können wir es von den Mächten zurückholen, die es uns stehlen.

Portrait

Johann Hari ist schweizerisch-englischer Publizist und Autor. Beim vorliegenden Essay handelt es sich um einen bearbeiteten Ausschnitt aus dem neuen Buch: Stolen Focus. Why You Can’t Pay Attention – and How to Think Deeply Again. Crown-Verlag, New York 2022. 368 S., F. 34.90. – Aus dem Englischen von Helmut Reuter.

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