Ein Traum von Mann

Unser Autor liebt Männer. Er fragt sich, warum es oft so mühsam ist, schwul zu sein – und findet überraschende Antworten.

Als ich zuletzt spürte, dass ich kein echter Mann bin, stand ich auf einer Leiter und hielt eine Bohrmaschine. Ich war gerade in eine neue Wohnung gezogen, Altbau und hohe Decken. Ich bohrte zehn Löcher, steckte Dübel und Haken hinein, hängte Lampenfassungen auf. Dann verband ich die Kabel mit der Lüsterklemme.

Als ich die Sicherung wieder einschaltete und alle Lampen leuchteten, fühlte ich Stolz. Ich mag es, Dinge an Wände und Decken zu hängen. Ich mag Bohrmaschinen, Spannungsmessgeräte und Schraubzwingen. Meine Mitbewohnerin schaute mich anerkennend an. Dann sagte sie: »Schon erstaunlich, dass du so gut handwerkeln kannst.« Ausgerechnet ich.

Wenn ich einen Umzugswagen in eine enge Lücke einparke, wundern sich meine Mitfahrer, dass ich so ein großes Fahrzeug lenken kann. Wenn ich Postkarten bekomme, sind sie rosa und zeigen einen Mann in Tutu oder in Lederkluft, mit Peitsche in der Hand. Auf einer Postkarte klebte eine Briefmarke mit einem nackten Hintern. Der Po von einem Kerl natürlich. Denn ich bin ein Mann, der Männer liebt.

Lange dachte ich, das würde in meinem Leben keine Rolle spielen, außer bei der Frage, mit wem ich ins Bett gehe. Ich lebe in einem Land, in dem Schwulsein nicht mit dem Gefängnis bestraft wird oder sogar mit dem Tod. Anfang der Neunzigerjahre wurde es von der Liste der psychischen Krankheiten gestrichen. Seit dem vergangenen Sommer dürfen Schwule heiraten und Kinder adoptieren wie Heterosexuelle auch. Keine andere gesellschaftliche Gruppe hat in den vergangenen Jahren so viele Rechte und so viel Anerkennung gewonnen wie Schwule. Sie könnten im Jahr 2018 das gleiche Leben führen wie Heterosexuelle. Doch das tun sie nicht.

Meine heterosexuellen Freunde planen gerade ihre Hochzeit oder ziehen in größere Wohnungen, weil sie ein Kind erwarten. Meine schwulen Freunde suchen seit Jahren ohne Erfolg eine Beziehung, gehen in die Darkrooms von Schwulenbars oder ziehen allein zu Hause eine Linie Koks, bevor sie über das Internet fremde Männer zu sich einladen. Meine schwulen Freunde kämpfen gegen das Gefühl der Einsamkeit und die Verlockung der Drogen. Sie wünschen sich eine feste Beziehung und finden oft nur schnellen Sex.

Studien aus Deutschland und den USA zeigen, dass sie keine Ausnahme bilden. Weniger als die Hälfte der schwulen Männer hat einen festen Partner; in der Gesamtbevölkerung sind es zwei Drittel. Schwule rauchen mehr, nehmen häufiger verbotene Drogen und haben ein doppelt so hohes Risiko, von ihnen abhängig zu werden, wie Heterosexuelle. Sie haben öfter risikoreichen Sex, erkranken vier Mal häufiger an einer Depression oder an einer Panikstörung und denken zwei bis drei Mal so oft an Selbsttötung.

Ich wollte herausfinden, warum das so ist. Liegt es an der heterosexuellen Mehrheit, die tolerant scheint, aber immer noch denkt, Schwule seien schwach, sensibel und handwerklich ungeschickt? Oder liegt es an den Schwulen selbst?

In den vergangenen Monaten habe ich mit Psychologen und Soziologen geredet. Ich habe einsame und glückliche Schwule getroffen. Ich habe eine Sexparty besucht und mit meinen Eltern über Analverkehr gesprochen. Ich bin losgezogen, weil ich erfahren wollte, wie Schwule in unserem Land leben. Wiedergekehrt bin ich mit Antworten auf zwei größere Fragen: ob eine Gesellschaft jedem Menschen die gleichen Chancen geben kann – und wann ein Kampf um Gleichheit eigentlich gewonnen ist.

Ich bin 29 Jahre alt und Single. Manchmal, wenn ich abends von der Arbeit nach Hause komme, öffne ich eine App, die Grindr heißt. Dann baut sich auf dem Bildschirm meines Smartphones ein Gitter von Profilbildern auf, geordnet nach Entfernung. Die schwule Welt besteht aus namenlosen Gesichtern und nackten Oberkörpern.

Auf seinem Profil kann man eintragen, ob man als HIV-positiv getestet wurde, wie groß und schwer man ist und welche Position beim Sex man bevorzugt. Es gibt die Wahl zwischen fünf Abstufungen: nur Top, eher Top, beides, eher Bottom und nur Bottom. Auch ich habe diese Felder ausgefüllt. Auf Grindr ist der schwule Mann eine Ware, die sich selbst anpreist.

»Moin«, schrieb mich letztens ein Mann an, von dem ich lediglich einen Oberkörper sah. In seinem Profil standen nur zwei Buchstaben: XL. Er meinte seinen Penis.

»Wie groß ist deiner?«, fragte der Oberkörper.

»Moin«, schrieb ich und fügte eine zentimetergenaue Angabe hinzu, mit Länge und Durchmesser.

»Geil. Worauf stehst du?«

Sex ist eine Ressource, die in der schwulen Gemeinschaft schier grenzenlos verfügbar ist.

Als ich es ihm schrieb, antwortete er: »Das Gleiche. Ich mag es unkompliziert und ohne viel Gelaber.« Er schob hinterher: »Mag große Schwänze.«

Ich tippte: »Eher besuchbar oder eher mobil?«

Als ich den Chat meiner besten Freundin zeigte, sagte sie, auch ihr würden manche Männer auf Dating-Portalen ungefragt Bilder ihres Penis schicken oder sie plump zum Sex auffordern. Der Unterschied ist, dass ich auf Grindr ständig solche Nachrichten bekomme. Der zweite Unterschied sei, sagte sie, dass ich die Nachrichten beantworte. Ich traf den Oberkörper ein paar Tage später. Er hieß Marco.

Scrolle ich durch meine Nachrichten, lese ich Gespräche mit Männern, von denen ich nichts weiß, außer ihrem Gewicht und ihrer Größe, und mit denen ich darüber spreche, wie ich gern Sex mit ihnen hätte. Ich sehe Fotos von erigierten und schlaffen Schwänzen, von krummen und geraden, beschnittenen und unbeschnittenen. Der schwule Mann kann ein sehr primitives Wesen sein.


Einer meiner schwulen Freunde sagt, als er mit sechzig Männern geschlafen habe, da habe er aufgehört zu zählen. Zu dem Zeitpunkt war er 21 Jahre alt. Die meisten schwulen Männer haben zwei bis fünf Sexpartner pro Jahr, 15 Prozent haben zwischen sechs und zehn, 14 Prozent zwischen elf und fünfzig. Ich kenne keinen heterosexuellen Mann, der so oft seine Partnerinnen wechselt.

Um diesen Unterschied zu ergründen, habe ich den US-Psycho­logen Michael Bailey angerufen. Bailey ist Professor an der North­western University nahe Chicago und erforscht seit Jahrzehnten, was homosexuelle und heterosexuelle Männer voneinander unterscheidet. Er filmte, wie Schwule und Heterosexuelle gehen und sich hinsetzen, und nahm auf, wie sie einen Text vorlesen. Bailey sagt, zwei Drittel der Schwulen könne man allein an ihrer Stimme und fast die Hälfte an ihrem Gang erkennen. Bis heute kenne niemand den Grund dafür. In einem Punkt, sagt er, würden sich Schwule und heterosexuelle Männer aber nicht unterscheiden: in ihrem Bedürfnis nach Sex. Pure Evolutionslehre sei das, sagt Bailey.

Für Männer ist unverbindlicher Sex mit vielen Frauen die beste Strategie, um ihre Gene möglichst weit zu verbreiten. Für Frauen ist unverbindlicher Sex ein Spiel, in dem sie wenig gewinnen und viel verlieren können. Ein Mann, sagt Bailey, investiere weniger in eine Familie, wenn die meisten Kinder nicht seine eigenen seien.

Bailey sagt, die Heterosexuellen haben weniger unverbindlichen Sex, weil die meisten Frauen nicht wollten.


Sex ist eine Ressource, die in der schwulen Gemeinschaft schier grenzenlos verfügbar ist. Schwule feiern Partys, auf denen es um nichts anderes geht.

An einem Freitagabend im Dezember stehe ich in der Schlange für den »Kit Kat«-Club in Berlin. In meinen Socken stecken drei Kondome und ein Päckchen Gleitgel. An der Garderobe gebe ich alles ab bis auf Socken, Schuhe und Unterhose.

Der Club besteht aus zwei großen Tanzflächen, auf denen Männer sich möglichst wenig zu elektronischer Musik bewegen. Manchmal treffen sich zwei Blicke, und die beiden Männer gehen in einen dunklen Raum. Dort werden sie eins mit einer Masse nackter Körper, schwitzender, erregter, ruheloser Körper.

Ich spüre Hände, die nach mir greifen, ein leichtes Nicken heißt »Ja«, ein Kopfschütteln »Nein«. Ich sehe Penisse, die in Körperöffnungen stecken. Als ich in die Gesichter der Männer schaue, entdecke ich keine Spur von Freude. Es sieht aus, als müssten sie eine schwere Arbeit verrichten.

Auf dem Weg nach Hause frage ich mich, was der viele unverbindliche Sex mit den Schwulen macht. Mir kommt es vor, als ob viele von ihnen Sex mit dem verwechseln, wonach sie eigentlich suchen: Nähe. In der schwulen Welt ist es intimer, miteinander zu kuscheln als miteinander zu vögeln.

Treffe ich einen der Männer von der App, merke ich, dass er bloß ein austauschbares Bildchen ist. Dass er die gleichen Komplimente vorher schon so vielen anderen Männern gegeben hat. Ich berühre ihn, aber ich spüre ihn nicht.

Höre ich in mich hinein, ist da eine Leere, die sich nicht füllen lässt.

In Umfragen sagen vier von fünf alleinstehenden Schwulen, sie wünschten sich einen festen Partner. Einer von ihnen bin ich.

Ich mag es, meinen Kopf auf die Brust eines Mannes zu legen und seinen Herzschlag zu spüren. Ich mag es, seine Bartstoppeln zu zählen. Irgendwann möchte ich mich mit diesem Mann darum streiten, wer unseren Kindern abends die Zähne putzt und ihnen morgens ein Pausenbrot schmiert.

Letztens habe ich einen schwulen Bekannten besucht. Paul ist Mitte vierzig, arbeitet erfolgreich als Anwalt und lebt in der obers­ten Etage eines alten Backsteinhauses mit Dachterrasse. Manchmal wohnt ein Mann bei ihm, den er als Kumpel bezeichnet. Sie schlafen miteinander, aber im Alltag habe ich die beiden nie Zärtlichkeit austauschen sehen.

Als ich seine Wohnung betrat, stand Paul gebeugt über einen großen Tisch und machte ein Puzzle mit tausend Teilen. Wie ich ihn da sah, einsam mit seinen Puzzleteilen, erschrak ich. So möchte ich nicht enden.

In einer Emnid-Umfrage aus dem Jahr 2000 stuften sich 1,3 Prozent der befragten Männer in Deutschland als schwul ein – aber 9,4 Prozent gaben an, sich von Männern erotisch angezogen zu fühlen.

Meine Kindheit verbrachte ich in einem Dorf im Münsterland. Ich wuchs auf mit meinen Eltern und drei älteren Geschwistern in einem Einfamilienhaus mit Garten, in dem Gurken und Sauerkirschen wuchsen. An unser Grundstück grenzte eine Schweinewiese. Der Kirchturm im Ortskern wachte über die knapp 8000 Seelen und die katholische Bürgerlichkeit. Dass es noch andere Formen zu leben und zu lieben gab als die Kleinfamilie mit Mutter, Vater und Kindern, darüber wurde nicht gesprochen.

Der Lebensweg heterosexueller Männer verläuft auf einer breiten Autobahn, auf der es manchmal Schlaglöcher geben mag. Doch vor allem gibt es gut markierte Ausfahrten, die ins Büro eines Standesbeamten führen oder in den Kreißsaal. Für schwule Männer dagegen führt der Lebensweg durch das Unterholz eines Waldes, die Pfade sind schlecht ausgetreten, und an den Gabelungen fehlen Wegweiser.

Manchmal muss ich darüber lachen, wenn Menschen behaupten, Homosexuelle könnten Kinder mit ihrer sexuellen Orientierung anstecken. Wenn das so wäre, ich wäre nie schwul geworden. Niemand lebte mir vor, wie das gehen soll: ein Leben als Schwuler.

Laut Umfragedaten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes betrachten 18 Prozent der Deutschen Homosexualität als unnatürlich. Und 38 Prozent finden es unangenehm, Männer zu ­sehen, die einander küssen.

Bislang haben Forscher nicht herausgefunden, warum etwa drei Prozent der Männer homosexuell werden und die anderen heterosexuell. Studien an eineiigen und zweieiigen Zwillingen zeigen eine geringe genetische Veranlagung. Ein einziges Schwulen-Gen scheint es jedoch nicht zu geben. Wäre Schwulsein rein genetisch bedingt, wären Schwule längst ausgestorben, weil sie sich selten fortpflanzen.

Forscher haben daher die Zeit im Mutterleib in den Blick genommen. Einige vermuten die Ursache in Eiweißen, die vom männlichen Y-Chromosom gebildet werden und im Gehirn des Fötus das Begehren nach Frauen anlegen. Manche Mütter bilden Antikörper, um die Eiweiße zu bekämpfen – je mehr, desto öfter sie schwanger werden. Das könnte erklären, warum mit jedem Sohn die Wahrscheinlichkeit steigt, dass er schwul wird. Auch ich habe zwei ältere Brüder.

Einig sind sich Wissenschaftler in einem: Weder die Erziehung noch der Einfluss anderer Homosexueller macht Menschen schwul. Viele Schwule berichten von einem Anderssein, das sich bis in ihre ersten Lebensjahre zurückzieht.

Der schwule Mann wird schwul geboren.


Versuche ich mich zu erinnern, wie mein Begehren entstand, sehe ich immer dieselben Standbilder von Momenten, die sich anfühlten wie ein großer Fehler.

Es ist der Moment, als ich mit dreizehn oder vierzehn Jahren in der Dusche eines Schwimmbads stehe und mich der Penis eines älteren Jungen erregt.

Der Moment, als ich durch die Bravo blättere und die Seite mit dem nackten Jungen am spannendsten finde.

Der Moment, als ich an meinen besten Freund denke, während ich mich im Bett anfasse.

Meinen ersten Mann küsste ich vor der einzigen Kneipe meines Dorfes, die gute Musik spielte. In jener Nacht schlief das Dorf, wir waren betrunken und gingen ein paar Schritte in die Dunkelheit. Damals dachte ich, schwule Liebe müsse man verstecken.

Ich erinnere mich heute nicht mehr an den Kuss, nur noch daran, wie sich meine Hände vortasteten in Gegenden, die mir ungeheuer aufregend vorkamen. Ich erfühlte die Rundungen des Hinterns und strich den schmalen Streifen Schamhaare entlang, der sich vom Bauchnabel hinunterzieht. Da fragte Jonas – in Wahrheit hieß er anders – mich, ob er mich seinen »Schatz« nennen dürfe.

Drei Monate führten wir eine Beziehung oder das, was wir damals dafür hielten. Dann rief er mich an und sagte, er habe keine Gefühle für mich. Es sei besser, das Ganze zu beenden. Ich war neunzehn. Jonas war mein letzter Freund.

Ich frage mich, wie das alles zusammenhängt: die innere Leere, der schnelle Sex, das Alleinsein.


In Berlin treffe ich Ralph Kohn, bei ihm suche ich eine Antwort. Kohn arbeitet als Psychotherapeut, ist Co-Autor des Buches

Sexuelle Orientierung in Psychotherapie und Beratung

und behandelt schwerpunktmäßig Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender.

Wenn ein schwuler Mann zum ersten Mal in seine Praxis kommt und dessen sexuelle Orientierung zum Thema wird, bittet Kohn ihn aufzuschreiben, wie er selbst über Schwule denkt. Auf den Zetteln liest Kohn immer wieder die gleichen Sätze: können keinen Ballsport, geben ein leichtes Opfer ab, haben zwei linke Hände, sind Tunten, Schwanzlutscher, Arschficker. Es ist eine Liste von Makeln und Beschimpfungen.

»Homosexuelle Menschen hören diese Wertungen von klein auf«, sagt Kohn, »und irgendwann übernehmen sie sie selbst.« Das geschehe häufig unbewusst. Viele Schwule würden ihre gleichgeschlechtlichen Gefühle im Innersten ablehnen. Psychologen haben dafür ein sperriges Wort erfunden: internalisierte Homonegativität.

Homonegativität ist wie ein Schleier, der sich vor das Begehren legt. Kohn sagt, manche Schwule empfänden Scham, Schuld oder Ekel, nachdem sie mit einem anderen Mann geschlafen hätten. Viele Schwule hätten ständig Angst, abgelehnt zu werden, von Heterosexuellen oder anderen Schwulen. Weil sie nicht in die Norm passen, die vorgibt, dass Männer Frauen und Frauen Männer zu lieben haben. Weil sie nicht dem Bild entsprechen, das die Menschen von einem Mann haben. Um dieser Ablehnung zuvorzukommen, sagt Kohn, lehnten sie selbst andere Schwule ab. Sie fänden immer einen Grund, warum der andere nicht passt: zu alt, zu groß, zu weiblich, zu dick, zu blond. Bis am Ende niemand mehr übrig bleibt.

Ich habe immer noch Schwierigkeiten, diese drei Worte zu sagen: Ich. Bin. Schwul.

Wenn ich die Arbeit wechsle und neue Kollegen bekomme oder wenn mir ein Freund einen seiner Freunde vorstellt, habe ich immer noch Schwierigkeiten, diese einfachen drei Worte zu sagen:

Ich. Bin. Schwul.

Erzähle ich es, freue ich mich, wenn der andere antwortet: »Das hätte ich bei dir nie gedacht.« Oder: »Du wirkst gar nicht so.« In der U-Bahn setze ich mich manchmal breitbeinig hin, damit ich männlicher aussehe, und in diesem Artikel für das SZ-Magazin würde ich verschweigen, wenn ich beim Analsex der passive Partner wäre.

Wenn mir ein Freund sagt, ihn wundere, wie gut ich Fahrräder reparieren oder Autos einparken könne, fühlt sich das wie ein Angriff auf meine Männlichkeit an. Während dem heterosexuellen Mann in der Werbung, in Filmen und Magazinen nahegelegt wird, er solle mehr Gefühle zeigen, habe ich als homosexueller Mann Angst davor, als unmännlich zu gelten. Auch ich trage Homonegativität in mir.

Ich frage Ralph Kohn, woher sie kommt. Er sagt einen Satz, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht: Wie gut einem Schwulen das Leben gelinge, hänge stark davon ab, wie seine schwule Identitätsentwicklung verlaufe – und wie Freunde und Familie beim ersten Coming-out reagieren würden.


An einem Novembermorgen steige ich in einen Zug, danach in einen Bus. Der Bus fährt an der Kneipe vorbei, neben der ich vor zehn Jahren Jonas küsste. Das Haus steht leer, jemand hat ein Graffito auf die Rollläden gesprüht.

Ich bin hergekommen, weil ich mit meinen Eltern über mein Coming-out sprechen möchte, über einen Abend, den ich lange versucht habe zu vergessen. An jenem Abend saß meine Mutter auf einer Ecke meines Bettes, und ich sagte ihr, dass ich mich in einen Mann verliebt hätte, in Jonas.

Da fing meine Mutter an zu weinen. Was, fragte sie, habe sie falsch gemacht?

Mit der Frage begann eine zehn Jahre währende Sprachlosigkeit.

Es ist eine Sprachlosigkeit, die in vielen Familien herrscht. Ein schwuler Freund sagt, wenn er seinen Eltern über Skype von einem Mann erzähle, stehe sein Vater auf und gehe aus dem Raum. Ein anderer Freund sagt, wenn er einmal seine Homosexualität anschneide, frage seine Mutter, warum er ständig über dieses Thema sprechen wolle.

Viele Telefonate mit meiner Mutter in den vergangenen Jahren waren kurz. Sie fragte, für welche Prüfungen im Studium ich lerne, und später, wie ich mit meinen Artikeln vorankomme. Sie fragte das nicht aus Höflichkeit, sie war ernsthaft daran interessiert. Zog ich um, besuchte sie mich in meinen neuen Wohnungen und pflanzte auf dem Balkon Blumen. Sie wollte teilhaben an meinem Leben. Doch über das, was mich wirklich bewegte, konnte ich nicht mit ihr sprechen.

Als ich ihr nun am Telefon meinen Besuch ankündigte, fragte meine Mutter, welches Essen ich mir wünsche. Dabei weiß sie, dass ich alle ihre Gerichte mag. Sie sagte, dann werde sie auf dem Markt ein Bio-Huhn kaufen und daraus ein Frikassee machen. Es ist die Art, wie sie mir gegenüber ihre Liebe ausdrückt.


Nach dem Essen sitze ich meiner Mutter auf der weinroten Ledercouch in ihrem Wohnzimmer gegenüber, und sie sagt, sie habe damals gar nicht gewusst, was das eigentlich sei: Coming-out.

Meine Mutter ist 73 Jahre alt, mein Vater 77. Er verbrachte die ersten Jahre seines Lebens unter einem Regime, das Homosexuelle in Gaskammern umbrachte. Sie wuchsen auf, als Homosexualität als Krankheit galt, und erlebten die Zeit, als die Medien vor der »Homosexuellen-Seuche« Aids zu warnen begannen. Meine Mutter sagt, sie bekomme das Wort »schwul« bis heute nicht über die ­Lippen.

Sie habe geglaubt, als Homosexueller müsse ich ein Leben als Außenseiter führen. Als Eltern, sagt sie, wünsche man sich ja das Beste für seine Kinder. Man versuche, sämtlichen Schaden von ihnen abzuwenden. Sie sagt »man«, wenn sie »ich« meint.

Ich sage, dass ein Mann einen anderen Mann genauso lieben könne wie eine Frau. Dass er ihm einen Strauß Rosen schenkt, wenn er »Ich liebe dich« sagen will, und dem anderen eine Suppe kocht, wenn er krank ist. Ich verschweige, dass mir noch nie jemand einen Strauß Rosen mitgebracht hat.

»Wie macht ihr es denn?«, fragt meine Mutter. »Anal?« Ich fühle mich sofort in einer Verteidigungshaltung.

Ich sage, ich sei beim Sex ja der aktive Partner, derjenige, der eindringt.

»Ist das denn schön?«, fragt meine Mutter.

Mein Vater lächelt.

Ich hatte mir dieses Gespräch viele Jahre früher gewünscht. Ich hatte gehofft, dass sie einmal fragen, wie es mir damit geht, schwul zu sein. Vielleicht aber, denke ich nun, wäre es meine Aufgabe gewesen, davon zu erzählen.


Ab 1872 galt in Deutschland der Paragraf 175, der sexuelle Handlungen unter Männern strafbar machte. Der Paragraf wurde erst 1994 abgeschafft.

Lange dachten Forscher, die schwule Identitätsfindung verlaufe in zwei Schritten. Sie beginne mit dem Eingeständnis sich selbst gegenüber und ende mit der befreienden Offenbarung gegenüber Freunden und Familie, dem Coming-out. Doch was die Wissenschaftler später herausfanden, passte mit dieser Vorstellung nicht zusammen. Die Wahrscheinlichkeit, nach dem Coming-out an einer Depression zu erkranken, sank nicht, wie man erwarten würde. Sie stieg.

Im Jahr 2003 schuf ein US-Epidemiologe ein Modell, mit dem er die psychischen Probleme sexueller Minderheiten erklärte. Es heißt »Modell des Minderheitenstresses« und gilt heute als Standard in der Psychotherapie. Das Modell geht davon aus, dass Schwule spezifischen Situationen ausgesetzt sind, die Stress erzeugen. Diese Stressoren können außerhalb der Person liegen, etwa in der Er­fahrung von Gewalt oder Diskriminierung. Sie können aber auch innerhalb der Person liegen, in der Angst vor Ablehnung oder der Homo­negativität, also der Übernahme negativer Wertungen.

Die inneren Gründe, sagte mir der Berliner Psychotherapeut Ralph Kohn, seien oft die schlimmeren: »Die Angst davor, dass jemand dich eine Schwuchtel nennt, ist stressiger, als wenn es tatsächlich jemand sagt. Denn die Angst ist dauerhaft.«

Ich kenne diese Angst. Zwar wurde ich in meinem ganzen Leben nie als »Schwuchtel« beleidigt, doch prüfe ich ständig, ob ich auf andere wie eine Schwuchtel wirken könnte. Halte ich auf der Straße die Hand eines anderen Mannes oder küsse ich ihn in einem Restaurant, ist das jedes Mal eine kleine, Kraft kostende Offenbarung. Das Coming-out ist ein lebenslanger Prozess.


Spürt der Körper Stress, schüttet er Stresshormone aus. Er setzt Energiereserven frei, der Puls nimmt zu, der Blutdruck steigt. Es gibt verschiedene Mittel, um Stress abzubauen. Sport gehört dazu, aber auch Alkohol, Drogen oder Sex. Nimmt der Stress zu, muss man die Dosis erhöhen. Mehr Sport, mehr Drogen, mehr Sex. Irgendwann reicht ein »mehr davon« nicht länger.

»Wir sehen Schwule mit den gleichen Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung wie Soldaten, die im Krieg waren«, sagt Alex Keuroghlian. Er arbeitet als Psychiater am Fenway Institute in Boston, das sich auf die Gesundheit von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender spezialisiert hat. Keuroghlian sagt, es brauche für diese Symptome kein einzelnes traumatisches Ereignis, einen Bombeneinschlag, eine Vergewaltigung, einen Auto­unfall – anhaltender Stress könne den gleichen Effekt haben.

Seine Patienten schlafen schlecht, können sich schlecht kon­zentrieren und sich auf keine enge Beziehung mit anderen einlassen. Keuroghlian sagt, sie seien emotional taub.


Ich habe in den vergangenen Wochen viel über das Leid der Schwulen gelernt, über Ängste, Stress, psychische Krankheiten und Einsamkeit. Die meisten Forscher, das liegt in der Natur der Sache, beschäftigen sich mit Problemen und ihren Ursachen. Ich habe keinen Wissenschaftler gefunden, der das schwule Glück ergründet.

Also fahre ich selbst los, erneut nach Berlin. Ich nehme einen Aufzug, und als die Tür aufgleitet, stehe ich im Leben von Felix Kallenbach und Alexander Mahler. Seit siebzehn Jahren sind sie zusammen, zwölf davon in einer eingetragenen Partnerschaft; bald wollen sie heiraten.

Zur Begrüßung sagt Mahler, 42 Jahre alt, er müsse schnell in die Apotheke, eine Milchpumpe besorgen. Auf einer Kommode steht eine Karte mit einer goldenen Krone: »Hurra, ein Mädchen.«

Felix Kallenbach – die Namen habe ich geändert – ist 45. Er erzählt, den Wunsch nach einem Kind habe er zum ersten Mal vor zehn Jahren gespürt. Er sei kein Heiliger und erwarte das auch nicht von seinem Mann. Manchmal schliefen sie mit anderen. Doch ihre Partnerschaft, sagt er, sei für ein Kind bereit.

Er fragte bei Organisationen nach, die Adoptionen aus Süd­afrika oder Brasilien vermitteln. Die Antwort war überall die gleiche: Zwei schwule Väter, das sei ganz schwierig. Irgendwo hieß es, sie könnten vielleicht ein Pflegekind bekommen. Dafür, dachte Kallen­bach, sind wir Schwule also gut genug.

Vor drei Jahren schalteten Kallenbach und Mahler eine Annonce auf der Internetseite familyship. Sie möchte Menschen zusammenbringen, die »auf freundschaftlicher Basis eine Familie gründen« wollen. Die beiden Männer schrieben: »Wir sind zusammen seit ewig und drei Tagen.« Sie schrieben: Ob Single-Frau oder ein Paar, sei erst mal egal. Und: »Wir wollen nicht nur Wochenend-Onkels sein.«

Christina Hofer (Name von der Redaktion geändert) war die erste Frau, die sie trafen. Sie hatten sofort ein gutes Gefühl. Hofer erzählte, sie sei alleinstehend, stehe vor der Menopause und wolle ein Kind. Aber sie wolle nicht deswegen den erstbesten Mann heiraten.

Kallenbach und Mahler ließen ihre Spermien untersuchen und entschieden, wer der biologische Vater werden solle. Mit Hofer formulierten sie ein anderthalbseitiges Dokument, in dem stand, dass das Kind geimpft werden solle und auch nicht-vegane Kost essen dürfe. Sie legten fest, dass es die Hälfte der Zeit bei den Vätern, die andere Hälfte bei der Mutter verbringen wird, und dass bei großen Entscheidungen alle drei mitbestimmen dürfen.

Emilia kam an einem Sonntagmittag im Januar 2018 zur Welt, 3500 Gramm, 53 Zentimeter. Kallenbach sagt, sie hätten viel mehr Namen für einen Jungen gehabt, aber er freue sich ebenso über ein Mädchen. Als Mahler die Tasche bekam, in der Emilia lag, guckte er hinein, fasste das Baby aber nicht an. Er sagt, er habe Angst ge­habt, etwas kaputt zu machen. Wie sie da sitzen und über dieses junge Wesen reden, empfinde ich Zuversicht, dass Emilia ein glückliches Mädchen wird. Ich kenne kein anderes Paar, das zehn Jahre lang abgewogen hat, ob es ein Kind bekomme soll.

Dann stelle ich mir vor, wie ich irgendwann selbst zu einem Geburtsvorbereitungskurs gehe und zur ersten Vorsorgeuntersuchung beim Kinderarzt. Wie ich in der Apotheke eine Milchpumpe aus­leihe, weil sich die Brustwarzen der Mutter entzündet haben.

Ich glaube, ich wäre ein guter Vater.

Der Kampf um Gleichheit ist noch nicht zu Ende, wenn Homosexuelle heiraten dürfen.

Am Anfang meiner Reise fragte ich mich, wer Schuld trägt an der schwulen Einsamkeit, ich oder die anderen. Vielleicht geht es aber weniger um Schuld, sondern um Achtsamkeit: der Gesellschaft den Schwulen gegenüber und den Schwulen sich selbst gegenüber.

Ich glaube, eine Gesellschaft kann nicht allen Menschen im ­Leben die gleichen Chancen geben. Deutsche werden es in Deutschland immer leichter haben als Flüchtlinge aus Syrien, Gesunde leichter als Kranke, Reiche leichter als Arme. Aber sie kann sich bemühen, diese Lücke zu verkleinern.

Warum bereiten sich Eltern nicht darauf vor, dass ein Kind auch nicht heterosexuell werden kann? Warum gibt es Jugendliche, die sich ihres Be­gehrens schämen, weil andere sich auf dem Schulhof gegenseitig als »schwule Sau« beschimpfen? Warum bekommen Kinder das schwule Leben in Filmen, Serien oder Romanen fast immer nur als stereo­types Abziehbild gezeigt?

Der Kampf um Gleichheit ist nicht zu Ende, wenn zwei Schwule heiraten dürfen. Er ist erst beendet, wenn die Menschen sich nicht mehr ständig darüber wundern, dass einige Männer eben Männer lieben. Wenn ich keine Postkarten mit Tutu mehr bekomme.

Solche Veränderungen brauchen Zeit. Vielleicht werden meine Kinder in dieser Welt erwachsen. Ich muss mit der Homonegativität leben, die in mir steckt. Aber ich kann mir ihren Mechanismus bewusst machen und lernen, sie zu beherrschen.

Ich kann anerkennen, und zwar tief in mir, dass mein Begehren etwas Natürliches ist; dass Schwule mehr sind als »Arschficker« und »Schwanzlutscher«, dass sie auch Baggerfahrer oder Fußballnationalspieler sein können.

Vor allem kann ich aufhören, aus der Angst vor Ablehnung, aus der Angst, verletzlich oder unmännlich zu wirken, den Wunsch nach einer Partnerschaft mit Sex zu betäuben. Ich kann versuchen, mich auf einen Mann einzulassen und darauf, dass er meine Schwächen und Ängste kennenlernt.

Schwule müssen sich nicht in das bürgerliche Ideal einer monogamen Ehe zwängen, für dessen Überwindung sie jahrzehntelang gekämpft haben. Aber sie müssen erkennen, dass sie einem Menschen nicht wirklich nahekommen können, wenn sie am nächsten Tag wieder mit einem anderen schlafen.

Ich habe lange überlegt, ob über diesem Text mein Name stehen soll. Zunächst war ich dafür. Wäre es nicht feige, mich zu verstecken? Ginge ich damit nicht wieder einen Schritt zurück in meiner Entwicklung als selbstbewusster Schwuler?

Dann dachte ich daran, dass für immer mein Name zusammen mit dem Wort »schwul« in den Suchmaschinen auftauchen würde. Manchmal reise ich für Recherchen in Länder, in denen Männer verhaftet werden, wenn sie ihre Homosexualität öffentlich zeigen. Könnte ich meine Arbeit noch machen wie zuvor?

Ich dachte auch daran, dass fremde Menschen mehr über mein Sexualleben erführen, als ich ihnen je persönlich erzählen würde. Auch Heterosexuelle breiten in einem Magazin keine intimen Details ihrer Sexualität aus. Und ich kann keinen aufrichtigen Artikel über das Schwulsein schreiben, ohne über schwulen Sex zu schreiben. Deshalb habe ich beschlossen, hier anonym zu bleiben.


Vor einigen Monaten habe ich einen Mann kennengelernt. Wir tanzten zusammen in einer Bar, dann tanzten wir näher, dann berührte ich ihn. Ich nahm den Mann mit nach Hause.

Robert hat braune Augen, spricht mit einem leichten amerikanischen Akzent und entdeckt kleine Dinge im Strom des Lebens, die an mir vorbeiziehen. Manchmal beobachtet er sekundenlang, wie der Milchschaum einen Kaffeelöffel hinunterkriecht.

Ich nenne ihn meinen »Fastfreund« und er mich seinen »Vierfünftelfreund«. Ich muss erst lernen, diese Nähe zuzulassen. Zehn Jahre lang habe ich, statt mich einem Mann zu öffnen, lieber einen anderen getroffen. Es gelingt mir noch nicht immer, manchmal werde ich rückfällig. Aber ich habe mich auf den Weg gemacht.

Bald wollen Robert und ich nach Paris fahren. Ich freue mich darauf, ihm meine liebsten Orte zu zeigen: den Hügel Montmartre im Licht der Abendsonne, die Bücherverkäufer an der Seine und die geschäftigen Bars in der Rue Montorgueil. Die Dating-App Grindr habe ich von meinem Handy gelöscht.

An einem Sonntagnachmittag vor einigen Wochen passierte etwas Wundervolles. Meine Mutter rief an und erzählte, dass sie ihren Geburtstag mit ihrer ganzen Familie feiern möchte. Sie zählte auf, wen sie einladen werde: meine Tante und meinen Onkel, die Familie meines Cousins, meine Schwester und ihren Mann, meine beiden Brüder mit Frauen und den sechs Kindern. Sie sagte, sie suche noch ein Café, in dem es einen gemütlichen Tisch gebe für so viele Menschen.

Dann machte meine Mutter eine kurze Pause. Möchtest du, fragte sie, Robert mitbringen?

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