Die Ukraine hat einen neuen obersten Korruptionsjäger

Sem­jon Kri­wo­nos gilt als Re­for­mer, doch ei­ne Af­fä­re aus der Ver­gan­gen­heit be­las­tet ihn.

Mit fast einem Jahr Verzögerung hat die Regierung einen neuen Direktor für das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (Nabu) ernannt. Der Ministerrat wählte am Montag in der letzten Runde des Verfahrens Semjon Kriwonos aus drei Kandidaten aus. Der Jurist aus Mariupol wird in Zukunft die wichtigste unabhängige Behörde im Kampf gegen Bereicherung und Bestechung anführen.

Die Regierung von Präsident Selenski will damit der Bevölkerung und den ausländischen Partnern zeigen, dass sie entschieden gegen Korruption vorgeht. Dies ist politisch überlebenswichtig geworden, seit eine Reihe von Skandalen um überteuerte Einkäufe von Lebensmitteln für die Armee und Generatoren Ende Januar zu grosser Empörung und einer Rücktrittswelle hoher Funktionäre geführt hat.

Druck aus der EU

Besonders die EU, die vorwiegend zivile Hilfe im Umfang von mehreren Dutzend Milliarden Euro leistet, machte Druck. Die Ernennung eines neuen Nabu-Direktors bis April stellte eine von sieben faktischen Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen dar. Sie hoffe, damit bereits in diesem Jahr beginnen zu können, meinte die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, letzte Woche bei ihrem Besuch in Kiew. «Nun haben wir unsere Zielstrebigkeit in der Frage der europäischen Integration unter Beweis gestellt» – so unterstrich Ministerpräsident Denis Schmihal am Montag die ukrainische Erwartungshaltung.

Die Ernennung eines neuen obersten Korruptionsjägers ist umso wichtiger, als der diesbezügliche Leistungsausweis von Wolodimir Selenski durchzogen ist. Er gewann 2019 zwar die Wahl mit dem Versprechen, die Oligarchen zu entmachten, ging dabei aber stets selektiv vor. Mit der unseligen Tradition, Korruptionsbekämpfung als Waffe gegen politische Gegner einzusetzen, brach auch Selenski nicht.

Umso bedeutsamer ist die Rolle des Nabu. Die Behörde wurde 2014 nur deshalb gegründet, weil die westlichen Unterstützer die Gewährung der Visafreiheit und von Krediten daran knüpften. Artjom Sitnik, der langjährige Direktor, galt mit seinem Team von mehreren hundert Ermittlern als äusserst unbequem. Es waren primär prorussische Kräfte, die ihn auszubremsen versuchten, vor allem über ihre Machtbasis im Verfassungsgericht. Allerdings sorgten auch Selenski nahestehende Kreise dafür, dass den Korruptionsjägern heikle Verfahren entzogen wurden, etwa gegen einen wichtigen Präsidentenberater.

Dass die Neubesetzung nach dem Ablauf von Sitniks Mandat im April 2022 so lange dauerte, war denn auch nicht nur eine Folge des Krieges, sondern auch der Verzögerungstaktik der Regierung. Angesichts der vielen ausländischen Hilfsgelder ist eine unabhängige Behörde zur Stärkung der Transparenz jedoch unabdingbar. Die erfolgreiche Durchführung eines offenen und relativ sauberen Auswahlverfahrens stellt somit einen Fortschritt dar.

Bestechungsvorwürfe aus Kiew

Unumstritten ist Semjon Kriwonos dennoch nicht. Der 40-Jährige machte sich zwar in den Jahren nach der demokratischen Revolution von 2014 einen Namen als Reformer im Team von Micheil Saakaschwili. So führte Kriwonos als stellvertretender Leiter der Finanzverwaltung von Odessa ein transparenteres Verfahren bei der notorisch korrupten Zollbehörde im dortigen Hafen ein. 2016 bewarb er sich um die Leitung des Nabu-Büros von Odessa. Doch während des Verfahrens tauchten in den Medien Bestechungsvorwürfe gegen ihn im Zusammenhang mit einem Landgeschäft bei Kiew auf. Diese liessen sich juristisch zwar nicht erhärten, und auch der damalige oberste Korruptionsjäger Sitnik erklärte sie für haltlos. Dennoch zog Kriwonos seine Bewerbung zurück, «um dieses junge und so notwendige Organ nicht zu beschädigen», wie er erklärte.

Zuletzt arbeitete Kriwonos als Leiter der staatlichen Inspektionsbehörde für Stadtbau. In dieser ebenfalls korruptionsanfälligen Abteilung erstellte er in Zusammenarbeit mit Sitnik ein Memorandum zur besseren Prüfung der Tätigkeiten von Beamten. Er half dem Nabu auch, einen Unternehmer zu verhaften, als ihm dieser Schmiergeld anbot.

Die alten Bestechungsvorwürfe sind jedoch nie verschwunden. Kritiker weisen zudem darauf hin, dass seine Frau bis vor kurzem eng mit einem Vertrauten von Andri Jermak zusammengearbeitet habe, dem Leiter von Selenskis Präsidialamt. Jermak gilt als graue Eminenz – seine Unterstützung dürfte bei der Wahl Kriwonos’ ein wichtiger Faktor gewesen sein.

Der neue Nabu-Direktor muss nun beweisen, dass er trotz politischer Nähe selbständig agieren kann. Die richtigen Worte hat er bereits gefunden: Kriwonos will die Unabhängigkeit der Korruptionsjäger stärken und ihre Zahl erhöhen. «Jeder Korrupte soll sich bereits vor seinem Gesetzesbruch vor Gott, dem ukrainischen Volk und dem Nationalen Antikorruptionsbüro fürchten», schrieb er nach seiner Wahl.

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