Intimgesellschaft und Narzissmus

Die Intimität vernichtet objektive Spielräume zugunsten affektiv-subjektiver Regungen. In dem rituell-zeremoniellen Raum zirkulieren objektive Zeichen. Er lässt sich nicht narzisstisch besetzen. Er ist in gewisser Hinsicht leer und abwesend. Der Narzissmus ist Ausdruck der distanzlosen Intimität zu sich, nämlich der fehlenden Selbst-Distanz. Die Intimgesellschaft wird von narzisstischen Intimsubjekten bewohnt, denen die Fähigkeit szenischer Distanzierung ganz fehlt. Sennett schreibt: »Der Narziß ist nicht auf Erfahrung aus, er will erleben — in allem, was ihm gegenübertritt, sich selbst erleben. So wertet er jede Interaktion und jede Szene ab […].« ⁷⁵ Narzisstische Störungen nehmen Sennett zufolge deshalb zu, »weil die heutige Gesellschaft ihre innere Ausdrucksprozesse psychologisch organisiert und den Sinn für sinnvolle soziale Interaktion außerhalb der Grenzen des eigenen Selbst unterminiert.« Die Intimgesellschaft beseitigt rituelle, zeremonielle Zeichen, in denen man sich entkäme, sich verlöre. Bei Erlebnissen dagegen begegnet man überall sich selbst. Das narzisstische Subjekt kann sich selbst nicht abgrenzen. Die Grenzen seines Daseins verschwimmen. Dadurch entsteht auch kein stabiles Selbstbild. Das narzisstische Subjekt verschmilzt so sehr mit sich selbst, dass es nicht möglich ist, mit sich zu spielen. Der depressiv gewordene Narziss ertrinkt in seiner grenzenlosen Intimität zu sich. Keine Leere und Abwesenheit distanziert den Narziss von sich selbst. [Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Matthes-Seitz Berlin, 2012, Kap. Intimgesellschaft, S. 60ff]

⁷⁵ Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin 2008, S. 563